Friedrich Griess: Worte und Taten

Eine besorgniserregende Entwicklung, deren Beginn schon länger zurück liegt, die aber gerade in letzter Zeit sich immer stärker bemerkbar macht, ist die zunehmende Diskrepanz zwischen kirchlichen verbalen Äußerungen und damit nicht übereinstimmenden praktischen Konsequenzen.

Diese Tendenz fiel mir zum ersten Mal beim päpstlichen Rundschreiben "Mulieris dignitatem" auf, in dessen erstem Teil die absolute Gleichheit von Mann und Frau betont wurde, in dessen zweitem Teil aber der Frau ausschließlich die Rolle der Jungfrau oder Mutter zugedacht war. Während der Mann also Wissenschaftler, Künstler, Ingenieur, Manager oder Politiker sein dürfe, sei die Rolle der Frau auf die beiden erwähnten Funktionen zu beschränken. Mehrere Leute vermuteten damals, daß diese beiden Teile des Rundschreibens von verschiedenen Personen verfaßt worden sein mußten; anders konnten sie sich diese Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch und dessen dazu völlig unpassenden praktischen Konsequenzen nicht erklären.

Diese Linie setzt sich offenbar fort, denn nach einem Bericht aus dem Vatikan hielt Papst Johannes Paul II am 24. November 1999 eine Ansprache, in der er sagte, alles solle getan werden, sicherzustellen, "daß der vollständige Platz der Frauen in der Kirche und in der Gesellschaft anerkannt werde" (Church and Society Must Recognize Woman's Unique Place). Im Oktober 1999 war aber berichtet worden, daß bei der Europasynode zwar männliche Ordensobere an den Abstimmungen teilnehmen durften, die ebenfalls anwesenden weiblichen Ordensoberen aber nicht, mit der Begründung, "sie seien nicht geweiht". Selbst wenn gegen eine Weihe der Frau theologische Gründe sprächen (was ich bezweifle), so muß damit ja nicht gesagt sein, daß Frauen von Entscheidungsprozessen in der Kirche ausgeschlossen sein müssen. Das vielstrapazierte "Ebenbild Gottes" wird so halbiert. Das Ärgernis liegt ja gerade darin, daß jede Mitwirkung an Entscheidungen an die Weihe gebunden ist, die nur Männern vorbehalten ist, und die sich gemäß meiner langjährigen Erfahrung als Pfarrgemeinderat in der Praxis durchaus auch auf Dinge bezieht, die mit Glaube und Lehre nicht das Geringste zu tun haben. Was heißt also, "alles soll getan werden", wenn gleichzeitig alles verhindert wird?

Ein Bericht der New York Times vom 27. November 1999 zeigt ein ähnliches Problem bei den amerikanischen theologischen Fakultäten auf (Plan to Preserve Church Ties Leaves Educators With Questions). Einerseits wird verbal die Freiheit der Wissenschaft betont, andererseits wird sie in der Praxis empfindlich eingeschränkt. Die Betroffene fragen sich mit Recht. Was davon gilt jetzt? Nobody knows.

Ein weiteres Musterstück verbalen Lobes mit gleichzeitig schwerster de-facto-Verurteilung ist in dem Konflikt um die Schwangerenberatung in Deutschland zu beobachten. Was nützt es, wenn der Papst den MitarbeiterInnen dieser Beratung höchstes Lob zollt, wenn er sie gleichzeitig der Mitschuld am Tode Ungeborener zeiht? Übrigens ist nicht abzusehen, welche weitere Entwicklung dieser Konflikt nehmen wird, wenn, wie der Bischof von Aachen, Heinrich Mussinghoff, überlegt, der Staat auch andere Beweise für die erfolgte Beratung als den berüchtigten Schein, etwa eine eidesstattliche Erklärung der betreffenden Frau oder den Nachweis einer Geldüberweisung oder Hilfevermittlung akzeptieren könnte. Dann würde wohl die fruchtlose Diskussion zwischen Papst und Bischöfen von Neuem beginnen, und wenn der Papst seiner bisherigen Argumentationslinie folgt, müßte er die völlige Schließung sämtlicher katholischen Beratungsstellen fordern. Denn er kann doch wohl den Staat nicht zwingen, diese Frauen abzuweisen. Dann wäre dem ungeborenen Leben ganz sicher nicht gedient, aber der Papst hätte formal recht behalten. "Fiat justitia, pereat mundus."

Ähnliches gilt für das Gebiet der Ökumene. Was nützt es, wenn der Papst im Rundschreiben "Ut unum sint" die anderen Kirchenführer bittet, ihm zu sagen, was er der Einheit der Christen zuliebe an seinem Amtsstil ändern müßte, wenn er diesen Amtsstil aber zur gleichen Zeit immer autoritärer gestaltet? Ich habe unter diesen Umständen für die Zurückhaltung gerade der synodal und kollegial verfaßten Kirchen des Ostens, die wohl am ehesten auch die frühchristlichen Verhältnisse widerspiegeln, in dieser Frage volles Verständnis.

Im gewöhnlichen Leben würde man ein Verhalten, bei dem verbal das eine beteuert wird, während in der Praxis gerade das Gegenteil geschieht, als unehrlich und als Doppelzüngigkeit bezeichnen. Gelten für die Führung der Kirche denn andere Maßstäbe? Und gilt nicht das Wort Jesu: "Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein" (Mt 5,37). Und heißt es nicht: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen" (Mt 7.16).

Glücklicherweise treffen diese Vorwürfe auf lokaler Ebene nicht unbedingt. Gerade in der Erzdiözese Wien haben eine ganze Reihe von Frauen leitende Funktionen inne und ich freue mich besonders darüber, daß Frau Oberin Christine Gleixner in ihrer Funktion als Ökumenebeauftragte der Erzdiözese für das kommende Jahr zur Vorsitzenden des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich gewählt wurde. Aber ich appellierte, dem Kirchenrecht entsprechend, an Kardinal Christoph Schönborn als Mitglied des Weltepiskopates und des Kardinalskollegiums. Die Menschen sind heute nicht mehr so, daß man ihnen etwas vormachen kann, wie es in der Geschichte von "Des Kaisers neue Kleider" erzählt wird.. Eine weiterhin klaffende Diskrepanz zwischen verbalen Zusagen und praktischen Maßnahmen könnte bald zu einem allgemeinen Mißtrauen gegenüber der kirchlichen Führung ausarten.