Schwedische Theologische Quartalsschrift Jahrg. 71 (1995)
Dreißig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil
Gunnel Vallquist
Die Professorin Gunnel Vallquist, Mitglied der Akademie, ist seit ihrer Berichterstattung über das Zweite Vatikanische Konzil eine hervorragende Kennerin der römisch-katholischen Kirche. Als "Parteigängerin des Konzils" zeigt sie in diesem Artikel, wie immer mehr erfolgreiche Kräfte mit dem Zentrum in der römischen Kurie versuchen, die Entwicklung zu einem vorkonziliären Stadium zurückzuschrauben. Daß der Weltepiskopat eine stärkere Stellung erhält, wird als eine mögliche Lösung der derzeitigen Krise angesehen.
Ich wurde gebeten, für STK (= Schwedische Theologische Quartalsschrift) einen Artikel über die heutige katholische Kirche "mit Fäden zurück zum Zweiten Vatikanischen Konzil" zu schreiben. Das Ergebnis wurde eine Abrechnung ausgehend von einer ziemlich umfassenden Studie von zugänglicher internationaler Information über die Lage und die Stimmung in der Kirche, samt dem Eindruck von Gesprächen mit sachkundigen Personen unter Besuchen während der letzten Monate in Paris und in Rom. Die Fäden wurden sogar bis zum Ersten Vatikanischen Konzil zurück gesponnen.
Es wurde eine kritische und sicher kontroversielle Darstellung. Ich möchte betonen, daß meine Perspektive sehr "unschwedisch" ist, insofern die Probleme und Schwierigkeiten, die ich in meinem Artikel berühre, in unserem nordischen katholischen Milieu kaum erkenbar sind. Wir waren so lange glücklich von nennenswerten Konflikten und Schwierigkeiten befreit, unsere Bischöfe sind vom Konzil inspiriert und gute Hirten ihrer Diözesen. Daher schrieb ich das, was ich geschrieben habe, nicht ohne Bedenken - aber von der weiteren Perspektive aus, in der ich mich befinde, kann ich nicht anders. Ich kann auch nicht unparteiisch sein. Ich bin nun einmal eine Parteigängerin des Konzils.
Das Zweite Vatikanische Konzil 1962 - 65 war ein so durchgreifendes Ereignis in der katholischen Kirche, daß man es mit den Überschwemmungen den Nils vergleichen kann, die den Pflanzenwuchs auf dürstenden Feldern zum Blühen bringen. Oder, mit einem anderen Gleichnis: nach vierhundert Jahren des Lebens hinter starken Schutzmauern, Resten der Tridentinischen Kirchenversammlung der Gegenreformation und weiteren Höhen und Verstärkungen des Ersten Vatikanischen Konzils 1869 - 70 wurden nun die Türen und Fenster geöffnet, die Befestigungen niedergerissen, die Geister erweckt, und es war eine Lust zu leben.
Die Erneuerung ergriff Raum in allen Bereichen des kirchlichen Lebens, kann aber in zwei leitenden Prinzipien zusammengefaßt werden: eine bejahende Offenheit gegenüber der Welt und Modernität, vor allem ausgedrückt in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, und eine neue Kirchensicht, nicht mehr vom Bild der hierarchischen Pyramide ohne das Bewußtsein eines Gottesvolkes auf der Wanderung geprägt, mit der Aufgabe, ein Licht für die Welt zu sein: Lumen Gentium (der Titel dieser dogmatischen Konstitution bezieht sich jedoch nicht auf eine Kirche ohne Christus: Lumen gentium cum sit Christus ...).
Nun konnte, fast ein Jahrhundert später, das abgebrochene Erste Vatikanische Konzil mit der wichtigen Lehre über die Kollegialität vervollständigt werden: daß die Bischöfe, jeder einzelne in seiner Diözese, teilhaben an der Verantwortung des römischen Bischofs für die ganze Kirche, und daß die allgemeine Kirche in jeder Ortskirche gegenwärtig ist. Der Bischof ist nicht mehr eine isolierte Behörde, der sich selten anders als im Vorsitz zeigt; er ist der verantwortliche Leiter, aber ein Leiter, der zuhört und Ratschläge von der Priesterschaft und vom Laienvolk entgegennimmt. Den Laien wiederum wurden Dinge anvertraut, die früher nur von Priestern ausgeführt wurden, in Fragen der Unterweisung, geistlicher Wegbegleitung und gewisser liturgischer Aufgaben.
Zur neuen Offenheit gehörte auch eine völlig veränderte Sicht bezüglich nichtkatholischer Christen und sogar anderer Religionen. Die Ökumenik wurde eine mächtige Kraft und der enge Kontakt mit anderen Kirchen eine neue Inspirationsquelle. Die Religionsfreiheit - von Pius IX. um 1860 als der reine Wahnwitz erklärt - wurde als Menschenrecht proklamiert, negative Redewendungen, die man traditionell auf die Juden angewendet hatte, wurden verboten, und über das jüdische Volk wurde mit respektvollen Worten gesprochen.
Das Konzil wurde von den meisten als radikale Befreiung erlebt: die Kirche hatte mit großer Verspätung die Jetztzeit eingeholt und sprach endlich eine Sprache, welche die Menschen der Gegenwart verstehen konnten. Aber kaum war dies erreicht, bevor die Zeit ihrerseits einen Sprung machte: große Umwälzungen ereigneten sich, politisch, wissenschaftlich, kulturell. 1968 markiert die Spitze einer Entwicklung, die lange verborgen war. Eine Sturzwoge brach über die Kirche herein, die einige Jahrzehnte in einem vertrauensvollen Klima benötigt hätte, um in einer guten Ordnung die Konzilsbeschlüsse zu verwirklichen. Statt dessen brach eine große Unordnung aus, mit Protesten gegen fast alles, und dafür gab es keine Bereitschaft. Eine große Zahl von Priestern und Ordensschwestern verließ ihre Berufung und bisweilen auch die kirchliche Gemeinschaft. Das Unterrichtsniveau in Priesterseminaren und Klöstern sank infolge der herrschenden Unruhe bezüglich Fragen der Methoden und Programme und mit bedenklichen Konsequenzen für die Generation, die sich in Ausbildung befand. Pessimisten sprechen von einer verlorenen Generation, deren Mängel und Einfälle beim Kirchenvolk Verärgerung weckten und eine konservative Reaktion hervorriefen. Die "Integristen" erhielten Wasser auf ihre Mühlen und konnten alles dem Konzil zur Last legen. Die "verlorene Generation" ihrerseits beruft sich selten oder nie auf das Konzil; es gehört kaum zu ihrer Realität. In der Folge gab es viele, welche so konservative Tendenzen aufwiesen, daß sie sich kaum auf das 2. Vaticanum berufen wollten. Aber das Konzil steht offiziell als verpflichtende Norm und Inspiration für die ganze Kirche da, und das Bewußtsein darüber ist auch in großen Teilen des Kirchenvolkes lebendig.
Während des Zweiten Vatikanischen Konzils gab es eine starke Minorität, welche hartnäckigen Widerstand gegen den Reformwillen leistete, der in der Kirchenversammlung wie auch bei den Päpsten Johannes und Paul herrschte. Diese Minorität hatte ihre Stütze in der römischen Kurie und in der sogenannten römischen Theologie, konservativ und autoritär. Die Widerstandsbewegung geht weiter, und die heutige Situation ist unmißverständlich von ihrer immer erfolgreicheren Strategie geprägt. Sie begnügt sich nicht mehr damit, die neue Entwicklung zu hemmen, sondern arbeitet unentwegt für eine Rückkehr zur vorkonziliären Kirche. Es gibt starke Spannungen zwischen diesen Kräften und der Mehrzahl der aktiven Katholiken, die im Konzil ein Programm sehen, das erst unvollständig durchgeführt wurde und dessen Richtlinien die Zukunft der Kirche prägen sollten. Die Spannungen gehen oft in offenen Machtkampf über. Im großen und ganzen ist es eine Frage des Machtkampfes zwischen dem Zentrum und der Peripherie, zwischen Rom und den Ortskirchen.
Ein wesentlicher Punkt in der reformierten Kirchensicht des Konzils ist das Verhältnis zwischen Papst und Episkopat. Das Vaticanum I (1869 - 70) wurde wegen des Kriegsausbruches abgebrochen und hat sein Programm niemals zu Ende geführt: man behandelte die Stellung des Papstes in der Kirche, aber nicht die der Bischöfe. Das Ergebnis ist bekanntlich das sogenannte Unfehlbarkeitsdogma. Im Verhältnis zu den extravaganten Wünschen, die zu dieser Zeit von den "Ultramontanisten" aus verschiedenen Ländern vorgebracht wurden, kann man das Dogma in der Tat eher als eine Begrenzung denn als eine Erweiterung der päpstlichen Befugnisse sehen. Die extrem ultramontanen Strömungen waren um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stark: der Papst wurde als "Vize-Gott der Menschheit" oder als "Fortsetzung der Inkarnation" betrachtet: in einer hochangesehenen römischen Zeitschrift konnte man lesen, "wenn der Papst meditiert, so ist es Gott, der in ihm denkt".
Mit diesem Hintergrund war die Formulierung, auf die sich das Erste Vatikanische Konzil schließlich einigte, nach außerordentlich starkem Druck von seiten der Ultramontanisten und dem Papst selbst, trotz allem relativ maßvoll: "... wenn der römische Bischof ex cathedra spricht, d.h. wenn er in Ausübung seines Auftrages als Hirte und Lehrer aller Christen und kraft seiner höchsten apostolischen Autorität verkündet, daß eine Glaubens- oder Sittenlehre von der ganzen Kirche für wahr gehalten werden muß, genießt er durch den göttlichen Beistand, der ihm in der Person Petri verheißen wurde, die Unfehlbarkeit, welche der göttliche Erlöser seiner Kirche schenken wollte. Deshalb ist die so vom römischen Bischof getroffene Entscheidung unverbesserbar (irreformabile) aus sich selbst und nicht kraft der Zustimmung der Kirche (ex sese, non autem ex consensu Ecclesiae)." - Meine Übersetzung des Wortes irreformabilis (= unveränderbar oder unverbesserbar) ist natürlich tendenziös, aber kaum falsch.
Das Dogma ist also relativ maßvoll formuliert und mit so vielen Wenns und Abers versehen, daß man die Frage stellen könnte, ob überhaupt irgendwelche "unfehlbaren" päpstliche Aussagen vorliegen. Es gibt davon jedenfalls zwei. Die eine ereignete sich im Jahre 1854, also noch vor der Verkündigung des "Unfehlbarkeitsdogmas", nämlich "Mariä Unbefleckte Empfängnis", mit anderen Worten der Glaube, daß Maria von der Erbsünde befreit war. Das andere, "Mariä Aufnahme in den Himmel", wurde 1950 von Pius XII. verkündet. Nach guter kirchlicher Tradition kommt ein Dogma nur in kritischen Situationen zustande, wenn eine für die Kirche entscheidende Glaubenslehre angezweifelt wird und definiert werden muß. Von keinem dieser beiden Dogmen kann man sagen, daß dieses Prinzip auf sie zutrifft. Die Debatte über Marias Sündenfreiheit hatte schon vor vielen hundert Jahren aufgehört, und 1950 betraf es einen von Orthodoxen und Katholiken gemeinsam bekannten Glaubenssatz, bezeugt durch ein großes liturgisches Fest am 15. August, das seit eineinhalb Jahrtausenden im Osten wie im Westen gefeiert wird.
Man kann auch darauf hinweisen, was das Unfehlbarkeitsdogma gleichzeitig aussagt, nämlich daß der Papst fast ausnahmslos fehlbar ist, wie alle anderen Menschen. Wenn er täglich sein sogenanntes ordentliches Lehramt ausübt, stellt er als der oberstem Leiter der Kirche die gesamte Autorität der Kirche dar und kann auf Gehorsam Anspruch erheben. Ein nächster Papst aber kann in der selben Frage zu einer anderen Meinung gelangen und kann etwas anderes bestimmen - in der Geschichte der Kirche gibt es viele solche Beispiele, ganz natürlich, weil sich die Zeiten ändern und damit auch die Auslegung der grundlegenden Texte so wie auch der Kenntnis der Wirklichkeit durch das Lehramt. Eine solche Veränderung ist in unserer Zeit die sehr starke Betonung des "gebildeten" Gewissen des einzelnen Menschen als ausschlaggebende Instanz bei ethischen Entscheidungen. Das ist an und für sich nichts Neues: dies wurde zumindest von Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert behauptet, aber im Laufe der Zeit wurde die Tugend des Gehorsams - gewiß in der Nachfolge Jesu - und die Unterwerfung unter die Obrigkeit als allgemeines soziales Muster so stark betont, daß die persönliche Entscheidung und die persönliche Verantwortung zurücktrat.
Daß alle diese Faktoren wieder stark in den Vordergrund treten, hängt selbstverständlich mit der Erfahrung aus den kollektivistischen Regimen zusammen, wo die ungeheuerlichsten Verbrechen in bisher ungeahntem Maße mit der Motivierung begangen werden konnten, daß man aus Loyalität zum Regime, zuweilen "das Volk" genannt, "nur dem Befehl gehorchen" sollte. So entstand unter Schmerzen die Einsicht, daß auch die katholische Kirche in ihrer Unterweisung allzu einseitig den Gehorsam auf Kosten der persönlichen Verantwortung betont hatte. Hier verdient besonders ein Name erwähnt zu werden: der Moraltheologe Bernhard Häring, der während des zweiten Weltkrieges als Krankenpfleger an der Ostfront Dienst machte und bezeugte, wessen sich katholische Soldaten im Namen des Gehorsams schuldig machen konnten. Als er nach dem Krieg heimkam, begann er sofort das große Werk Das Gesetz Christi zu verfassen, das eine radikale und evangelische Veränderung der Perspektiven in der katholischen Moraltheologie bedeuten sollte.
Ein Begriff, den wir immer öfter in der katholischen Theologie und Ekklesiologie antreffen, ist die Rezeption. Vermutlich hat sich Einfluß von der orthodoxen und frühkirchlichen Tradition zusammen mit konkreter Erfahrung der Gegenwart hier geltend gemacht. Die Enzyklika Humanae Vitae Pauls VI. wurde von der Kirche einfach nicht "angenommen", soweit es das Verbot der "künstlichen Geburtenkontrolle" betrifft. Dazu kam es mit Rücksicht auf die Autorität des Lehramtes: man wollte nicht vom bisherigen Standpunkt der Kirche abweichen. Die Folge war die Nicht-Annahme - eine Katastrophe gerade für das Lehramt, das man schützen wollte. Nicht klug geworden durch diesen Schaden verfaßte Johannes Paul im Vorjahr das apostolische Schreiben Sacerdotalis Ordinatio, in dem er sich nicht mit der Erklärung des Unvermögens der Kirche begnügte, Frauen zu Priesterinnen zu weihen, sondern auch jede Diskussion darüber verbot, nicht nur für jetzt, sondern auch für alle Zukunft. Die Formulierungen im Brief - der dem Papst während eines seiner Krankenhausaufenthalte vorgelegt und von ihm dort unterzeichnet wurde - befanden sich in unbehaglicher Nähe der Unfehlbarkeitsgrenze. Hier wurde die Nicht-Rezeption unausweichlich.
Daß das Unfehlbarkeitsdogma einen ernster Unglücksfall in der Geschichte der Kirche darstellt, ist, das wage ich zu behaupten, eine sehr verbreitete Meinung unter Katholiken aller Schichten in der Kirche, wenn es auch seltener so direkt ausgesprochen wird wie in Hans Küngs Unfehlbar ? Eine Anfrage. Küng stellt die Dogmen in ihren historischen und theologischen Zusammenhang und diskutiert diesen in einer sachlichen und ausgewogenen Sicht. Die Aussage des Ersten Vatikanischen Konzils erzielte nicht den restriktiven Nebeneffekt, auf den man gehofft haben konnte; der Papstkult, die "Papolatrie", die in dem Dogma, so wie es formuliert ist, keine Unterstützung findet, hat weitergelebt und wird zielbewußt in konservativen "integristischen" Kreisen vielerorts und nicht zuletzt in Rom betrieben. Leider muß man sagen, daß Johannes Paul II selbst zum Aufblühen dieses Papstkultes beiträgt, der von Pius XII gezüchtet, dem aber von seinen drei nächsten Nachfolgern entgegengewirkt wurde. Karol Wojtyla ist eine gigantische Persönlichkeit, er besitzt alle Eigenschaften, die einen großen Volksführer auszeichnen: schauspielerische Begabung, persönlicher Mut, Körperkraft und Willensstärke, Intelligenz und umfangreiche Bildung. Vor allem hat er eine fühlbare starke Ausstrahlung von Glaube und Frömmigkeit sowie ein ungewöhnliches Kontaktvermögen und, wenn er will - und er will es oft - menschliche Wärme. Mit einer solchen natürlichen Begabung kann es für den Papst schwierig sein, dem Personenkult zu entgehen, den er wohl nicht anstrebt, aber auch nicht zu verhindern versucht.
Nach dieser Erläuterung komme ich wieder zum Ausgangspunkt zurück: die Verteidigung und der Angriff auf die Kirchensicht des Konzils. Die Lehre von der Kollegialität, d.h. der gemeinsamen Verantwortung der Bischöfe für die ganze Kirche, und dem Eigenwert der Ortskirchen erhielt nach dem Konzil eine bedeutende Anwendung durch die Bischofskonferenzen, die Organe für die Bischöfe in einem Land oder einem Länderverband sind. Mit den Bischofskonferenzen entstand eine Instanz zwischen dem Papst und den einzelnen Bischöfen. Diese konnte man nun nicht mehr einzig und allein als Exekutoren päpstlicher Befehle betrachten und behandeln: sie waren nicht mehr isoliert, sondern Teil einer Interessengemeinschaft. Dadurch könnten die Bischofskonferenzen ein Machtfaktor werden; sie repräsentieren eine Meinung und können, falls erforderlich, in höflicher und loyaler Form Ansichten äußern, die nicht unbedingt mit den in Rom herrschenden übereinstimmen müssen.
Dies wurde bald deutlich, und von seiten der römischen Kurie merkte man einen wachsenden Unwillen gegen die neue Ordnung. Das Verhältnis zwischen den Bischofskonferenzen und Rom ist in der Tat das dominierendste innerkirchliche Problem seit dreißig Jahren. Bei der Bischofsynode in Rom im Jahre 1985, als man die Ergebnisse des Vaticanum II analysieren sollte, zeigte sich unmittelbar, daß man von konservativer Seite sich darauf eingerichtet hatte, die Bedeutung der Bischofskonferenzen zu unterminieren. Es wurde also unter der Regie der Glaubenskongregation eine Kommission eingesetzt, welche "die theologische Grundlage" für deren Existenz untersuchen sollte. Diese Kommission hat ihre Resultate noch nicht veröffentlicht, aber das Dokument, das im Konzept vorliegt, läßt sicheren Quellen zufolge den Bischofskonferenzen jede theologische oder kollegiale Relevanz absprechen; sie können also kein Lehramt ausüben, denn dieses kommt nur dem einzelnen Bischof zu, der auf diese Weise isoliert wird, und gleichzeitig kann Rom in die inneren Angelegenheiten jeder Diözese eingreifen.
Was bezweckt wird, ist also ein programmatischer Rückschritt zu jener Ordnung, die vor dem Konzil herrschte. Die Glaubenskongregation vertritt die theologische Strategie, aber mindestens ebenso effektiv arbeitet die Bischofskongregation durch Ernennungen, die direkt darauf abgezielt zu sein scheinen, die kollegiale Einheit der Diözesanbischöfe untereinander zu sprengen. Solche Ernennungen äußerst konservativer Bischöfe haben durch eine Reihe von Jahren besonders Lateinamerika immer häufiger getroffen. Auf diese Weise wurde ein dynamischer und "volksnaher" Episkopat dezimiert und dadurch ein großer Teil des kirchlichen Engagements für die Armen und Unterdrückten eingebüßt. Die außerordentlich gute Zusammenarbeit innerhalb der holländischen Bischofskonferenz mit ihrer sehr heiklen Aufgabe, in einer skandalerschütterten Kirche Ruhe und Vertrauen zu schaffen, wurde durch ein paar katastrophale Ernennungen unterminiert. An verschiedenen anderen Orten Europas wurden Bischöfe gegen den ausdrücklichen Willen des Episkopats, der Priesterschaft und des Volkes und trotz oft spektakulärer Proteste eingesetzt. Die so Eingesetzten sind autoritäre Persönlichkeiten, "starke Männer", von denen man hofft, daß sie "die Ordnung in den Diözesen wieder herstellen", die Rom meint nicht kontrollieren zu können. Diese Politik hatte jedoch den entgegengesetzten Effekt, da das Volk in demokratischen Ländern sich offenbar nicht von einer Obrigkeit lenken läßt, die man nicht zumindest akzeptiert hat. Die Kirche kann nicht mehr mittels Diktat regieren, und Rom scheint zuletzt eingesehen zu haben, daß es gewisse Rücksichten nehmen muß.
Ein aktuelles Ereignis, welches großes internationales Aufsehen erregte, war die Absetzung des französischen Bischofs Gaillot. Dieser wurde während seiner zwölf Jahre als Bischof von Évreux durch seine öffentlichen Vorschläge bekannt, die bisweilen provokativ von den gemeinsamen Aussagen der französischen Bischofskonferenz abwichen. Gaillot hat dadurch große Popularität errungen, daß er für Wehrpflichtverweigerer eintrat, gegen Kernwaffen demonstrierte und Toleranz gegenüber sexuellen Abweichungen zeigte. Vor allem hat er sich, wie auch Abbé Piere, sehr für die Unglückskinder der Gesellschaft engagiert, besonders für die Obdachlosen (er wohnt nun in einem Haus, das von "Squatters" besetzt ist). All dies hätte wohl ohne ernstliches Mißgeschick vor sich gehen können, wenn nicht die Massenmedien sich des Ganzen angenommen und mit besonderer Vorliebe für Sensation und Skandal den armen Gaillot in zweifelhaftem Zusammenhang lanciert hätten, den er in einer gewissen Naivität und allgemeinen Freundlichkeit nicht abzuwehren wußte. So griff die Bischofskongregation ein, ohne die französische Bischofskonferenz zu fragen oder zumindest zu informieren. Gaillot wurde seine Diözese genommen und er statt dessen zum Titularbischof von Parthenia ernannt, einem antiken Bischofssitz, der seit langem im Wüstensand begraben liegt. Eine stark beitragende Ursache für den Crash war natürlich die Opposition von traditionalistisch-integristischer Seite; in Frankreich gibt es eine erbitterte und lautstarke Minorität dieser Art, die Rom gewöhnlich mit Anzeigen und Klageschriften bombardiert. Sogar gemäßigtere Kritiker hatten darauf hingewiesen, daß Gaillot allzu oft aus seiner Diözese weggereist war und es im Büro des Bischofs Zusammenarbeitsprobleme gab.
Jacques Gaillot ist eine sehr sympathische Person, es fehlt ihm jedoch die intellektuelle Schärfe eines Abbé Pierre und die Geschicklichkeit, Situationen zu meistern, und je mehr er öffentlich auftritt, desto mehr kommen auch seine Grenzen zum Vorschein. Niemand soll jedoch abstreiten können, daß Bischof Gaillot ein authentischer Zeuge für das Evangelium ist, für ein Christentum, das in praktisches Handeln umgesetzt wird, und daß sein Mut und seine Freimütigkeit, zu seinen Überzeugungen zu stehen, nicht zuletzt, wenn diese von gängigen kirchlichen Konventionen abweichen, ihn zu einer moralischen Richtschnur für große Teile des französischen Volkes gemacht haben, sowohl für Glaubende als auch für Nichtglaubende. Der Orkan von entrüsteter Opposition, der sich unmittelbar darauf aus allen Schichten der Gesellschaft bemerkbar machte, überzog Rom mit totaler Überraschung. Hier hatte man deutlich eine kapitale Dummheit begangen, und dies aus eher unbedeutenden Gründen. Die Absetzung eines Bischofs ist etwas außerordentlich Ungewöhnliches, das in der Praxis nur eintritt, wenn jemand sich schwerwiegender Abweichungen vom Glauben oder von der Sitte schuldig gemacht hat. Im Falle Gaillot hatte niemand so etwas auch nur angedeutet; die Anklage gegen ihn lautet, daß er seinen eigenen Weg ohne Rücksicht auf den übrigen Episkopat gehe und dadurch die Einheit verletzt habe, "deren Aufrechterhaltung die wichtigste Pflicht des Bischofs sei". Eine solche Begründung von der römischen Bischofskonferenz, der ausführende Behörde in dieser Angelegenheit, hinkt auf beiden Beinen. Die wichtigste Pflicht eines Bischofs ist in der Tat die Verkündigung des Evangeliums. Und die Kongregation, die durch ihre eigenen Bischofsernennungen selbst die Einheit innerhalb allzu viele Episkopate gesprengt hat, ist kaum glaubwürdig, wenn sie dieses Argument benützt. Nun ergießt sich über die Bischofskongregation eine Flut von Briefen von Katholiken, welche "die Freude haben mitzuteilen", daß sie nunmehr der Diözese Parthenia angehören.
Es ist also nicht schwierig, in der jetzigen Kirchenpolitik ein zielbewußtes und raffiniertes Bestreben zu orten, das Vaticanum II zu unterminieren und zu lähmen, um zu den Verhältnissen nach dem Vaticanum I zurückzukehren. Die Triebkraft in diesem Bestreben ist eine feste Überzeugung, daß diese letzte Kirchenversammlung gerade jene Tendenzen innerhalb und außerhalb der Kirche gefördert hat, welche das Tridentinum und das Vaticanum I bekämpfen und beseitigen wollte. In der Kirchensicht, die in dieser Restaurationspolitik zum Ausdruck kommt, liegt die Betonung auf der Institution, der Uniformität, der gesetzmäßigen Ordnung. In einer modernistischen Welt möchte man eine Kirche haben, die eine Gegenkultur bieten kann, eine Kirche, die für Zweifel keinen Platz hat, sondern immer bereit ist, die endgültige Antwort auf alle Fragen zu geben und alle abweichenden Meinungen zu verurteilen. Eine autoritär geleitete Kirche nach dem Pyramidenmodell: der Papst an der Spitze und die Laien unten, eine Kirche, wo das Leben des Einzelnen sowie der Gruppe nach unerschütterlichen Prinzipien ohne größere Rücksicht auf besondere Umstände beurteilt und gesteuert wird. Diese Kirchensicht, die zu Beginn dieses Jahrhunderts herrschte, ist noch immer bei vielen tief verwurzelt, denn sie entspricht einem Sicherheitsbedürfnis. Eine so radikale Änderung, wie sie ein Konzil mit sich bringt, braucht sicher eine oder einige Generationen, bis sie integriert ist. Bis dies geschehen ist, können normale Spannungsverhältnisse in mehr oder weniger schwerwiegende Problemen übergehen. So ist die Situation heute.
Wer sind also jene, die diese Restaurationspolitik anführen ? Die gängigste Antwort ist: die römische Kurie. Dies ist auch die richtige Antwort, wenn man dabei berücksichtigt, daß es zum Teil abweichende (prokonziliäre) Kräfte sogar auf hohem Niveau innerhalb der Kurie gibt, daß die Kurie aber zum Teil auch als strategisches Zentrum für die antikonziliären Kräfte dient, die es ringsum in der Welt gibt. Zu denen muß man große Teile der sehr mächtigen Organisation Opus Dei rechnen, die unter Johannes Paul II. freien Spielraum innerhalb der Kirche in einem Maß erhielt, dem sich frühere Päpste bestimmt widersetzten. Deren Männer findet man auch in Schlüsselpositionen innerhalb der Kurie - sie meiden in der Regel Spitzenstellungen und nehmen gerne weniger sichtbare strategische Machtpositionen ein.
Eine heikle Frage ist die, in welchem Grad der Papst selbst z.B. für die Ernennungen verantwortlich ist, die innerhalb der Kurie oder draußen in den Diözesen erfolgen. Es ist natürlich materiell und psychologisch unmöglich, daß der Papst, wenn er eine Bischofsernennung unterzeichnet, über jeden einzelnen und über die Verhältnisse in dessen Diözese Kenntnis haben kann. Es gibt in der katholischen Kirche gegen viertausend Bischöfe. Die Umsetzung geschieht relativ rasch, da alle mit Erreichung des 75. Lebensjahres zurücktreten müssen, eine Vorschrift, die von Paul VI. eingeführt wurde und die eine große Veränderung mit sich brachte; vorher hatte es nie eine Altersgrenze gegeben. Der Papst ist also abhängig von den Beamten, welche die Arbeit ausführen: die päpstlichen Nuntien (Diplomaten von sehr verschiedenem Kaliber) und die Leute der Bischofskongregation. Außerdem hält die Glaubenskongregation, noch mit der Erinnerung an die nicht allzu lange vergangenen Tage behaftet, als sie Sancta et Suprema Congregatio genannt wurde, ein ständig wachsames Auge über alles, was der Papst nicht selbst überblicken kann. Ihr Vorsitzender, Kardinal Joseph Ratzinger, sticht als der mächtigste Mann der Kirche hervor, aber in seinem Schatten können andere, vielleicht in Wirklichkeit mächtigere, sich verbergen. Unausweichlich ist jedoch, daß der Papst selbst zuletzt die Verantwortung für alles trägt, was in seinem Namen geschehen darf. Und das ist viel.
Daß im Vatikan ein Machtkampf vor sich geht, ist selbstverständlich; so war es immer, und bisweilen kann man dies nicht verheimlichen. Z.B. ist bekannt, daß die Verbannung des schismatischen Bischofs Lefèbvre eine autoritative Handlung des Papstes persönlich war, in scharfem Gegensatz zur Kurie, die gewissermaßen Lefèbvres Auftraggeber im Kampf gegen das Zweite Vatikanische Konzil war. Man weiß auch, daß der Papst selbst, vermutlich nach Anhören von Kritik, die Streichung eines Kapitels in der Enzyklika Veritatis Splendor angeordnet hat, in dem die Grenzen der "Unfehlbarkeit" auf eine Weise erweitert werden sollten, die man nicht akzeptieren konnte. Es ist auch bekannt, daß die neue Enzyklika Evangelium Vitae, mit Hilfe von Theologen des Opus Dei vom päpstlichen "Rat für die Familie" verfaßt, von Kardinal Ratzinger selbst gestoppt wurde, der eine Umarbeitung anordnete. Der Anlaß war wiederum ein Versuch, die Unfehlbarkeit beim Verbot von Abort und Euthanasie heranzuziehen.
Wie während der späteren Jahre Pauls VI. wird die Kirche praktisch nun in erster Linie von den Ämtern regiert, die formell die persönlichen Beschlüsse des Papstes ausführen sollen. Diese Situation entsteht immer gegen den Schluß eines langdauernden Pontifikates, wenn der Papst müde ist und einen Staatssekretär vermißt, der dasselbe wie er will und der außerdem die Kraft hat, sich innerhalb der Kurie Gehör zu verschaffen. Einen solchen Mann gab es während des ersten Abschnittes des Pontifikates Pauls VI., als eine Reihe wichtiger Reformen nach dem Willen des Papstes und im Geiste des Konzils durchgesetzt werden konnten.
Paul VI., mit seinem scharfen Intellekt und seiner langen Erfahrung an einer Schlüsselposition in der römischen Kurie, sah klar, daß eine durchgreifende Veränderung der Kirchenleitung notwendig war. Er führte auch gegen den Willen der Kurie, aber mit großem Beifall in der übrigen Kirche, eine Reihe von Reformen durch. Eine dieser Reformen war die Einrichtung einer regelmäßig zusammentretenden Bischofsynode mit gewählten Repräsentanten aus allen Kirchenprovinzen. Diese war dazu ausersehen, nach und nach die beschlußfassende Behörde unter dem Vorsitz des Papstes zu werden, während die Kurie auf rein ausführende Befugnisse reduziert werden sollte. Durch ein ausgeklügeltes System von gewählten Vertretern auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen wurde auch für Priester und Laien in allen Erdteilen und Kulturen die Möglichkeit eröffnet, zu Wort zu kommen, in Übereinstimmung mit dem klassischen Prinzip, daß das, was alle angeht, von allen behandelt werden soll. Doch diese Reform konnte niemals zu Ende geführt werden, da die in Rom vor Ort befindliche und gesammelte Kurie das Vorhaben leicht sabotieren konnte. Die Synode hat sich in der Praxis als fast völlig bedeutungslos erwiesen; sie wurde zu einer nur ratgebenden Instanz reduziert und hat nicht einmal das Recht, ihre eigenen Beschlüsse zu veröffentlichen, bevor sie von der Kurie, nominell vom Papst, genehmigt - und verändert - wurden.
Die Einrichtung der Synode beabsichtigte also klar, die Regierungsverantwortung von der römischen Kurie an den Weltepiskopat zu übertragen. Eine solche Reform ist notwendig, um die Autoritätskrise in der Kirche zu lösen. Dies betrifft die Glaubwürdigkeit sowohl innerhalb der Kirche als auch in der umgebenden Welt. Die jetzige Regierungsform ist unangemessen und für die Menschen unserer Zeit unbegreiflich. Sie ist auch für die vielen Gläubigen unannehmbar, die wie die orthodoxe Christenheit ihren Bezug in der alten ungeteilten Kirche suchen. Die ersehnte Einheit aller Christen kann auch niemals erreicht werden, solange der römische Bischof darauf Anspruch erhebt, nicht nur sein eigenes Patriarchat, sondern auch die Kirchen des Ostens zu regieren. Das weiß der Papst, dessen ökumenisches Engagement tief und aufrichtig ist - während gleichzeitig seine Handlungen oft in die entgegengesetzte Richtung tendieren.
In diesem Zusammenhang besteht Gelegenheit, die einzigartige Initiative von Johannes Paul zu erwähnen, als er Vertreter der großen Weltreligionen zum gemeinsamen Gebet in Assissi einlud. Er tat dies trotz starken Widerstandes von seiten der Kurie und traf auf scharfe Kritik auch von anderen traditionalistischen Kreisen in der Kirche. Der polnische Papst hat sich auch sehr stark für die Versöhnung mit den Juden eingesetzt; sein historischer Besuch in der Synagoge Roms wie auch die Errichtung diplomatischer Beziehungen mit Israel haben viel zu einer Klimaänderung in den jüdisch-christlichen Beziehungen beigetragen. Dies geschah auch durch sein persönliches autoritatives Eingreifen, durch das die peinliche Affäre um das Kloster in Auschwitz schließlich seine Lösung fand.
Wenn man den Bedarf an kirchlichen Reformen diskutiert, merkt man nirgendwo eine Hoffnung dafür, daß man so etwas "von oben" erwarten könnte. Dies müßte einen Papst voraussetzen, der in seiner römischen Bürokratie nahezu tabula rasa machte und eine Struktur aufbaute, welche der Vision Pauls VI. entspräche ( wenn man glaubt, diese zu kennen). Nachdem kein Wächter auf der Mauer einen solchen Helden erblicken kann, richten sich die Reformerwartungen statt dessen an die "Basis". Seit dem Konzil gibt es ein Bewußtsein, das bei immer mehr katholischen Christen Wurzeln schlägt: daß wir die Kirche sind, daß jeder einzelne von uns Verantwortung trägt und mitwirken soll, damit die Kirche lebt. (Dieses Bewußtsein war bei der schwedischen katholischen Synode deutlich zu erkennen, die neulich in Vadstena versammelt war). Der alarmierende Priestermangel, der in der westlichen Welt entstand und der sich nicht verringern wird, solange man die Kirchengesetze nicht ändert, hat dazu beigetragen, daß große Scharen von Laien und Ordensschwestern sich ausbilden ließen und für alle Aufgaben innerhalb der Gemeinden Verantwortung übernommen haben, für welche die Priesterweihe nicht obligat ist. Ohne solche engagierte Gruppen, getrieben von einer wirklich apostolischen Berufung, könnte die Kirche in vielen Erdteilen überhaupt nicht funktionieren. Hier gibt es also eine Reserve mit dem Gedanken an eine Veränderung in Richtung auf Priesterweihe teils von verheirateten Männern, teils von Frauen, die von einer immer mehr verbreiteten Meinung innerhalb der Kirche, auch der Priesterschaft, gewünscht wird. Wie man eine solche Veränderung durchführen könnte, wirft viele Fragen auf, und wenn der erste Schritt früher oder später in dieser Richtung unternommen wird, wird man wohl sicher studieren und sich davon belehren lassen, wie das gleiche Problem in anderen Kirchen gehandhabt wird - sowohl als Inspiration als auch als warnendes Beispiel.
Außer solchen in die Tätigkeit von Gemeinden oder Diözesen eingeordneten Personen und Gruppen gibt es andere, mehr oder weniger informelle Kreise, welche Menschen mit gemeinsamer Einstellung in einem für sie wesentlichen Bereich sammeln. Dazu gehören die charismatischen Bewegungen, die sich in den letzten Jahrzehnten weit ausgebreitet haben. Diese entsprechen einem Bedarf einer expansiveren Innerlichkeit beim Gottesdienst, oft mit einem Einschlag von Heilung, freiem Gebet und Zungenreden. Insofern haben sie eine offenbare Verwandtschaft mit der Pfingstbewegung, stehen aber fest in der katholischen Lehrtradition; vielleicht kann man sie als katholische Pietisten charakterisieren. Die charismatischen Bewegungen hatten bisweilen gewisse Konflikte untereinander, aber kaum mit Rom, da sie niemals Tendenzen aufwiesen, die von der offiziellen Linie der Kirche abweichen.
Innerhalb des gleichen Sektors - der ist weit und zieht keine scharfen Grenzen um sich herum - findet man die großen Scharen von Jugendlichen, die sich von der reformierten Bruderschaft in Taizé und ihren jährlichen Großversammlungen in verschiedenen Ländern angezogen fühlen. Dies ist ein beredsames, fast überwältigendes Zeichen dafür, wie die jungen Generationen einander über traditionelle Konfessionsgrenzen hinweg näher kommen. Deshalb haben die römischen Behörden gewiß mit Sympathie, doch nicht ohne Unruhe, wahrgenommen, was in Taizé geschieht. Vor allem galt die Unruhe der Interkommunion oder richtiger ausgedrückt der "wilden Kommunion", die dort in aller Stille stattfindet. Es ist oft sehr schwer, die Jungen fühlen zu lassen, daß es wichtig ist, Grenzen zwischen Christen zu ziehen, die Gemeinschaft im Glauben und im Leben kennen.
Sorge wegen solcher Übertretungen gab es nun während einiger Jahrzehnte; sowohl in der katholischen und noch stärker in der orthodoxen Kirche. Für immer mehr Katholiken ebenso wie für die Mehrzahl der Protestanten kann es schwierig sein, ein Verbot der gemeinsamen Kommunion zu akzeptieren, wenn man gleichzeitig die Einheit sucht und ersehnt. Es ist nicht leicht, sich davon zu überzeugen, daß das Verbot der Abendmahlsgemeinschaft Christi Wille sein sollte; er betete ja dafür, daß alle seine Jünger eins sein sollten. Statt dessen werden sie von ihren Kirchen ermahnt, dies nicht zu sein, und dies gerade in der Handlung, in welcher jeder Christ auf eine einzigartige Weise mit Christus selbst eins wird. Daher kann man das Verbot in der Praxis auch nicht aufrecht erhalten; es wird oft und mit gutem Gewissen übertreten, ohne daß es auffällt oder Aufsehen erregt. Nicht viele Priester werden jemand abweisen, der zur Kommunion nach vor kommt. Aber die ganze Frage ist mühsam, sowohl für den, der sich vom Verbot der Kirche absolut verpflichtet fühlt, als auch für den, der dies nicht tut.
Zu den lebendigsten Bewegungen an der Basis gehören die lateinamerikanischen Basisgruppen, aus denen die sogenannte Befreiungsbewegung hervorwuchs. Es handelt sich um eine neue Sicht, die Bibel konkret auf die Situation anzuwenden, in der man lebt. Das Befreiungsmotiv gehört ja zum zentralen Inhalt des Alten und des Neuen Testamentes. Die Frömmigkeitstradition der Kirche hat dies vor allem auf die Lebenssituation des einzelnen Menschen angewandt, ihn ein Rollenspiel und eine Nachfolge gelehrt, die unzählige Heilige und fromme Christen geformt hat. Die Befreiungstheologie jedoch will das Motiv auf das Kollektiv anwenden, auf die Lebenssituation des Volkes, auf dessen entbehrungsreiche und unterdrückte Situation. Dabei kamen auch marxistische Analysemethoden zu Anwendung, nachdem sich diese in der Praxis als wirkungsvoll gezeigt hatten. Einige sind dabei nicht stehengeblieben, sondern gingen zur Zusammenarbeit mit revolutionären Gruppen über. Die Grenzen klar einzuhalten war nicht leicht, umso mehr als das Konzil im Geiste von Papst Johannes für die Zusammenarbeit mit "allen Menschen guten Willens" sprach - gewiß eine schwer bestimmbare Kategorie.
Die römische Kirchenpolitik in Lateinamerika während der Achtzigerjahre kann man aus dem Bewußtsein der Gefahr des Marxismus und der Risken einer kommunistischen Machtübernahme auf diesem Kontinent erklären und in gewisser Weise verteidigen. Dennoch wird sich dieses Kapitel als eines der dunkelsten in der Geschichte des Pontifikates erweisen. Zwei Männer ragten als die leitenden Befreiungstheologen hervor: Gustavo Gutierrez und Leonardo Boff. Besonders der letztgenannte wurde die erste und sichtbarste Zielscheibe für den Angriff der Glaubenskongregation. Es half wenig, daß die Befreiungstheologen von den lateinamerikanischen Bischöfen, welche zu den großen Leitern während des Konzils gehörten, Schutz und Stützung erhielten - als Boff vorgeladen war, um sich vor der Glaubenskongregation zu verteidigen, wurde er von zwei Kardinälen begleitet, eine einzigartige Situation, die jedoch nicht half. Boff erhielt ein dreijähriges Verbot, zu publizieren und Vorlesungen zu halten, und wurde anschließend so beharrlich und kleinlich schikaniert, daß er schließlich genug hatte und die Kirche verließ.
Aber vor allem hat Rom durch massive Infiltration agiert; auf Leitungsebene, wie früher erwähnt, durch die Einsetzung von reaktionären Bischöfen - eine große Zahl von Diözesen war längere Zeit ohne Bischof, weil man keinen "passenden" gefunden hatte - und auf der Basisebene durch die Errichtung von konservativen Laienbewegungen. Die ganze Operation hat starke politische Schlagseite. Die Befreiungstheologie möchte in Übereinstimmung mit ihrem Namen das Volk zur Befreiung von politischer Unterdrückung führen, die unter anderen von rücksichtslosen Magnaten ausgeübt wird, die sich immer mehr Ländereien aneignen, welche die Armen zum Leben benötigen. Die Magnaten aber stehen in Verbindung mit den Regierungen, und viele Bischöfe haben sich mit dieser Obrigkeit solidarisiert. Der polnische Papst sah vor allem das Risiko, daß eine christliche Tradition fortgespült und in der kommunistischen Ideologie ertränkt werden könnte. Er nahm keine Rücksicht auf einflußreiche und nahezu heiligmäßige Bischöfe wie Helder Camara und Casaldáliga, sondern hörte auf Personen, die sich in jeder Beziehung als ihr Gegenteil auszeichneten. Das Ergebnis ist tragisch und empörend.
Die Behandlung Boffs durch die Glaubenskongregation liegt auf der Linie mit deren bekannten Traditionen. In den letzten zehn Jahren wurde die Kontrolle über Lehrstühle an katholischen Universitäten immer drakonischer; sie wurde auch durch die Anschaffung modernster Informationstechnik wirksamer. Eine große Zahl von Universitätslehrern wurde abgesetzt oder es wurde ihnen eine Professur verweigert; das letztere traf neulich einige sehr verdienstvolle Forscherinnen, vermutlich wegen allzu weit getriebener feministischer Sympathien verdächtigt. Die feministische Theologie ist natürlich auch in die katholische Kirche eingedrungen, mit einem breiten Spektrum von Forderungen und Vorschlägen, von den angemessendsten bis zu den unangemessendsten. Der Versuch der Glaubenskongregation, die Verbreitung unwillkommener Tendenzen dadurch zu verhindern, daß man die theologischen Fakultäten beherrscht und unbequeme Professoren ausschließt, hat eher die umgekehrte Wirkung: die Ideen verbreiten sich dennoch, die Professoren erhalten einen neuen Lehrstuhl an irgend einer freien Universität, und eine Verurteilung durch Rom ist die beste Werbung, die einem Buch zuteil werden kann. Aber natürlich wird die offene und freie Ideendebatte verhindert oder erschwert, welche die eigentliche Lebensluft für eine lebendige und gesunde theologische Entwicklung ist.
Daß das gegenwärtige Pontifikat, ungeachtet wie viele Jahre es noch dauern wird, sich in seiner Schlußphase befindet, ist sicher. Wie immer in dieser Situation widmet man sich, nicht zuletzt in Rom, eifrigen Spekulationen über den Nachfolger. Die Progressiven haben ihre Kandidaten, ebenso die Traditionalisten, aber hier sollen keine Namen genannt werden. Hingegen kann man die Gedanken in jener Weise spielen lassen, die unmittelbar nach dem Tod jeden Papstes Form annimmt. Vor dem Konklave hält gewöhnlich jemand eine Rede an die versammelten Kardinäle, De eligendo pontifice, welche eine Art Porträt des Papstes zeichnet, den die Kirche nun benötigt. Dieses Porträt formt sich unausweichlich mehr oder weniger zu einer Kritik an dem eben Verstorbenen. Auch die starken und guten Seiten eines Papstes können die Ablöse durch andere Eigenschaften benötigen, wenn schon nicht durch entgegengesetzte, so doch wenigstens durch ergänzende.
Es stellt sich oft die Frage, ob man das Experiment mit einem "Ausländer" als Bischof von Rom als einmaliges Ereignis oder als Beginn von etwas Neuem betrachten soll. Irgend ein Kardinal soll gesagt haben: "Nie wieder jemand von östlich von Frascati !" Aber es gibt kaum eine gemeinsam im Voraus gefaßte Meinung in dieser Angelegenheit, sei es bei den Progressiven oder bei den Traditionalisten;: bei den einen wie bei den anderen könnte man sich gut vorstellen, daß sie auf einen Lateinamerikaner oder Afrikaner setzen, und viele auf beiden Seiten würden vielleicht gerne eine Rückkehr zur italienischen Tradition sehen: der Papst ist nun einmal in erster Linie der Bischof von Rom ! Wahrscheinlich ist auch, daß man sich auf einen friedlichen Mann einigt, weniger politische aktiv, eher in seinem Arbeitsraum anwesend als von Tribüne zu Tribüne eilend. Sicher will man auch keinen zu jungen Papst haben, denn die Erfahrung mit langen Pontifikaten erzeugt Bedenken. Wie nach dem Tode Pius XII. könnte man sich eher einen ruhigen "Übergangspapst" wünschen - aber gerade diese Parallele ist eine nützliche Erinnerung daran, daß alle Berechnungen über den Haufen geworfen werden könnten. Der Übergangspapst Johannes wurde ja der, welcher den Übergang der Kirche in die neue Zeit vollbrachte. Die Auseinandersetzung wird sich zwischen denen abspielen, die einen Restaurationspapst wünschen und denen, die im Geiste des Konzils und nach den Richtlinien Pauls VI. fortsetzen wollen. Welches Stärkeverhältnis es im Konklave geben wird, kann ich noch nicht beurteilen. Fast alle stimmberechtigten Kardinäle wurden vom gegenwärtigen Papst ernannt, aber das ist immer so, wenn ein Papst lange genug regiert hat, und dies prädestiniert nicht das Konklave.
Zuletzt etwas Aberglaube. Die apokryphe Malachias-Prophetie benennt den nächsten Papst auf ihre gewöhnlich rätselhafte Weise: De gloria olivi, was auf jeden Fall eine friedliche Bedeutung zu haben scheint. Er wird, dieser Prophetie entsprechend, der vorletzte Papst sein; sein Nachfolger wird Petrus romanus genannt. Mit diesem sollte wohl die letzte Zeit angebrochen sein: Für die Welt oder für das Papsttum in seiner derzeitigen Form ?
Übersetzung: Friedrich Griess
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Summary:
The article is a critical view of tendencies towards a pre-council status within the Roman Catholic church. One problem ist that of authority. The Roman curia has too much power; the worldwide episcopate should have more influence. - (Gunnel Vallquist is professor and member of the Swedish Academy.)