Gunnel Vallquist:

Kardinal Franz König stellt immer noch seinen Mann

Katholische Bischöfe gehen mit 75 in Pension. Dies gilt auch für Kardinäle. Bei der Papstwahl sind diese bis 80 wahlberechtigt und wählbar. Einer, der mit 95 noch immer im Besitz seiner vollen Kräfte ist, zumindest mental und intellektuell, ist Franz König, der dreißig Jahre lang Wiens Erzbischof war. Er war einer der "großen" Kardinäle beim Zweiten Vatikanischen Konzil, wohl der letzte noch lebende von ihnen. Er ist nach allem zu urteilen unablässig tätig und ständig als Vortragender, Prediger und Sprecher bei verschiedenen feierlichen Anlässen gefragt.

Vor kurzem erschien ein dreihundertseitiges Buch mit dem Titel "Franz Kardinal König: Unterwegs mit den Menschen. Vom Wissen zum Glauben" (Domverlag). Es klingt wie die Zusammenfassung eines Lebenswerkes. Aber die Kapitel sind mit Datum versehen, und alle entstanden erst nach seinem neunzigsten Geburtstag. Sie bilden ein weites Spektrum von Themen: Demokratie und Menschenrechte, Kunst und Kultur, medizinische und ökonomische Ethik, Ökumene und Kirchenreform, Juden und Christen, Religion und Kirche in der heutigen Gesellschaft, Fragen über den Sinn des Lebens, über das Leid und den Tod.

Franz Königs Kompetenz erstreckt sich also über weitgespannte Bereiche. In jungen Jahren studierte er an der prestigereichsten römischen Universität, der Gregoriana, und am Bibelinstitut. Als Forscher spezialisierte er sich auf das Alte Testament und zugleich auf die Religionen des vorderen Orients, besonders die persische. Er erlangte das philosophische und einige Jahre später auch das theologische Doktorat und gab mehrere religionswissenschaftliche Werke heraus. Als Erzbischof von Wien kam er mit wichtigen politischen Fragen in unmittelbaren Kontakt und stellte die ersten ökumenischen Kontakte zwischen Rom und den Kirchen hinter dem Eisernen Vorhang her. Er wurde Vorsitzender des nach dem Konzil errichteten Sekretariats für den Dialog mit den Nichtglaubenden. Seine erste Aufgabe als Bischof war jedoch pastoral: Der Kontakt mit den Menschen aus allen Milieus und von aller Art, und mit den Problemen, vor welche die Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft gestellt waren.

Das Buch wird mit einer breit angelegten Studie eingeleitet, die im Zusammenhang mit Österreichs Vorsitz in der EU 1998 entstand: "Europa sucht seinen Weg". König malt ein breites historisches Fresko von Europas Entstehung aus dem zerfallenden römischen Reich und von der schrittweisen Entwicklung einer gemeinsamen christlichen Kultur mit Schulen und Universitäten, Kunst und Dichtung, die im Großen und Ganzen bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein bestehen blieb. Diese gemeinsamen Grundwerte haben trotz des kirchlichen Schismas 1054 zwischen Ost und West und der Spaltung der Westkirche um 1500, trotz der französischen Revolution und der darauffolgenden religionsfeindlichen Strömungen standgehalten.

Mit dem ersten Weltkrieg hörte dieses Europa auf, in der Weltpolitik führend zu sein. Es verlor sein Prestige und die Leute verloren ihren Fortschrittsglauben. In Jalta wurde 1945 Europa geteilt, der Eiserne Vorhang entstand. Dreißig Jahre später sagte der belgische Außenminister Tindemans: "Vierhundert Jahre lang sprach Europa im Namen der ganzen Welt - nun schweigt Europa." Meint er damit, fragt sich König, daß die Geschichte Europas nun zu Ende gegangen sei?

In Wirklichkeit war die Europaidee nie gestorben. In einer Kombination von wirtschaftlichen Motiven und christlicher Weltanschauung begannen Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi eine Zusammenarbeit, die sich weiter zur EG entwickeln sollte. 1990 folgte der "lautlose Zusammenbruch des Kommunismus", die Mauer fiel und in Rußland erstand die orthodoxe Kirche wieder fast wie durch Zauberei; plötzlich standen wieder hunderte Klöster da und der Staat beeilte sich, eine Verbindung mit der Kirche einzugehen. Für seinen demokratischen Wiederaufbau erwartete sich Rußland Unterstützung und Hilfe vom Westen, aber die Hoffnung wurde zur Enttäuschung. Sowohl der Osten als auch der Westen haben viel gutzumachen, hier gibt es Gegensätze und hat sie immer gegeben, aber beide streben aus vielen Gründen zueinander.

Europa wächst unter vielen Mühen und Schwierigkeiten zusammen. Beim Wachstumsprozeß ist die Kirche mit dabei. Die Zeit ist - glücklicherweise - lange vorbei, in der die Kirche das Leben und das Handeln der Staaten diktieren wollte. Dies ist nicht ihre Angelegenheit, und wenn Kardinal König über Politik und Soziallehre spricht, tut er dies nicht als einer, der die Macht besitzt oder sie besitzen will, sondern in der Gewißheit, daß die christliche Kirche zum Aufbau eines friedlichen und gerechten Europas, einer guten Welt, dazugehört.

Als Beobachter ist man sehr darüber erstaunt, wieviel sich die katholischen Bischöfe in Europa in der vor sich gehenden Entwicklung mit besonderer Betonung von Solidarität, Gerechtigkeit und Menschenwürde engagieren. Wendet man den Blick nach Schweden, so kann man sich über die geringe Teilnahme von Seiten der Schwedischen Kirche am europäischen Aufbauprojekt wundern. Will vielleicht auch hier jemand mit dabei sein?

Ein ständig wiederkehrendes Thema im Buch ist die Frage nach dem Sinn des Lebens, gewiß zu allen Zeiten im Mittelpunkt, aber besonders zu Zeiten eines "Paradigmenwechsels" wie der unseren. König weist, u.a. in einer Ansprache bei einem Psychiaterkongreß, auf die Bedeutung des Dialogs zwischen verschiedenen aber gleichrangigen Kategorien von Suchenden, Glaubenden und Nichtglaubenden, Christen und Nichtchristen hin. Gemeinsame humanistische Werte bilden die Grundlage eines solchen Dialogs, der für eine gute Gesellschaft notwendig ist. Die Zeit ist definitiv vorbei, in der die christliche Kirche als allgemeine Normenquelle anerkannt war. Nun hat sie ihren natürlichen Platz als Gesprächspartner mit einer klaren, aber niemals aufdringlichen Botschaft gefunden.

In einem Vortrag über Ethik für Ärzte enthält sich der Kardinal strikt frommer Ermahnungen oder überhaupt Ermahnungen. "Ethische Grundsätze, Richtlinien für medizinische Ethik, kann man niemandem aufzwingen. Das ist eine Frage persönlicher Einsicht und persönlicher Entscheidung. Heute ist es wichtiger denn je, daß die jungen Medizinstudenten sich von Beginn an mit den Grundfragen der medizinischen Ethik vertraut machen." Die Menschenwürde muß immer Vorrang haben, das sei, so König, ein kategorischer Imperativ im Sinne Kants. Jeder Mensch muß respektiert und in seiner Freiheit und Unverletzlichkeit geschützt werden; man darf ihn niemals zu Forschungszwecken ausnützen und sein Wert kann nicht nach Rentabiltität und Kosten berechnet werden. Für Christen wird diese ethische Überzeugung durch den Glauben bestärkt, daß jeder Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist.

Das Verhältnis der Christen zu den Juden ist für König ein zentrales Anliegen; mit Johannes Paul II betont er, daß die jüdische Religion einen unverzichtbarer Teil des christlichen Glaubens darstellt: "Unsere ältesten und ehrwürdigsten Brüder". In einer Gedenkrede im österreichischen Konzentrationslager Mauthausen sagt König: "Ich trete hier dafür ein, daß ich mit Ihnen allen bekenne, daß die Menschenwürde und menschliche Freiheit an diesem Ort so tief verwundet und geschändet wurde, daß die Schuld dafür wohl für immer in unsere menschliche Existenz eingebrannt sein wird." Man hat oft versucht, diese schrecklichen Ereignisse zu verharmlosen, um nicht daran denken zu müssen, was wirklich geschah. Wer aber die Geschichte vergessen will, verurteilt sich selbst dazu, sie nochmals zu erleben.- Wenn wir uns fragen, wie eine solche schreckliche Eskalation des Bösen möglich war, dann müssen wir uns auch die Frage nach persönlicher Schuld stellen. Irgendeine Kollektivschuld, hinter der man sich auf gewisse Weise verstecken könnte, gibt es nicht. Schuld ist etwas, das den Menschen immer in seinem Kern trifft. Damit steht der Einzelne vor seinem eigenen Gewissen; auf dessen Stimme zu hören ist etwas, das eine humanistische Ethik mit den religiösen Wurzel des Menschen verbindet; es ist ein Zeichen der Menschenwürde.

"Die Macht des Bösen war in unserem Land eine Realität. Sie nahm die Menschen und das ganze Land in Besitz; Machtanspruch wurde mit Schlagworten verkündet, und utopische Hoffnungen versprachen eine neue und bessere Zeit. Heute wissen wir, daß, wenn Rasse, Nation oder Klasse als höchste Werte verkündet und als eine Art Religionsersatz mit Intoleranz und Fanatismus verbunden werden, die Macht des Bösen eine ganzes Volk mit sich in furchtbares Unglück hineinziehen kann.

Wir, die ältere Generation, haben dies erlebt und sind beunruhigt, festzustellen, wie schnell Vergessen und Wegerklärungen einsetzen. Aber wir können uns mit dem Gedanken, daß so etwas nie mehr geschehen könnte, niemals in betrügerischer Sicherheit wiegen - denn die Macht des Bösen kann übermorgen in neuer attraktiver ideologischer Verkleidung wiederkommen. Also: Hütet euch vor den falschen Propheten!"

König spielte beim Zweiten Vatikanischen Konzil eine bedeutende Rolle, wurde vom Konzil geprägt und führte dessen Intentionen weiter. Er kann heute, wie so viele andere, nicht vermeiden, festzustellen, daß wichtige und verpflichtende Beschlüsse des Konzils noch nicht durchgeführt wurden. In einem Beitrag zur Festschrift der Österreichischen Bischofskonferenz 1999 spricht er Klartext über den Leitungsstil in der katholischen Kirche. Daraus spricht die Sorge um die Ökumene, aber mindestens ebenso sehr um die innere Funktion der Kirche. Ein zentrales Anliegen des Konzils ist die Kollegialität, nämlich daß der Papst und die Bischöfe gemeinsam als Nachfolger des Apostelkonzils, nicht der Papst allein, die Weltkirche leiten und daß die Bischöfe ihre vollen Befugnisse bei der Leitung ihrer Diözese wieder erhalten sollten. Dies wurde nicht durchgeführt, dem wurde vielmehr entgegengearbeitet, und die Zentralisierung, welche das Konzil - und der Papst - beseitigen wollten, wurde in einem Maße verstärkt, für das es in der Kirchengeschichte keine Parallele gibt. Die Selbständigkeit der Bischöfe und die Autorität der örtlichen Bischofskonferenzen wird konsequent durch den "Apparat", die römische Kurie, begrenzt, die, wie König sagt, die Funktionen des nicht funktionierenden Bischofskollegiums übernommen hat und eifrig eine ständige wachsende Flut von Dokumenten aussendet. Eine lange Serie von autoritär verfügten Bischofsernennungen stellt ebenfalls ein immer größer werdendes Problem mit dringendem Bedarf nach einer Lösung dar.

König besteht darauf, daß das Subsidiaritätsprinzip - daß Beschlüsse nicht auf einer höheren Ebene als nötig gefaßt werden - auch in der Kirche gelten müsse. Fall dies nicht geschieht, "werden weder der Orthodoxen noch die Anglikaner oder die protestantischen Kirchen daran interessiert sein, weitere praktische Schritte in Richtung zur Einheit zu unternehmen". Niemand weiß das besser als Johannes Paul II selbst: Die Ökumene ist sein großes Herzensanliegen, und in der Enzyklika Ut unum sint, von König oft zitiert, hat er ausdrücklich um Hilfe gebeten, Wege für eine solche Reform zu finden. Franz König dürfte dazu einer der gegebenen Wegweiser sein.

Original veröffentlicht in Svenska Dagbladet, Mai 2001
Übersetzung: Friedrich Griess