John W. O'Malley: Der Aufstieg des Papsttums

Zu Beginn des vergangenen Jahrtausends wußten relativ wenige Christen von der Existenz des Papsttums - heute liegt das Interesse am Papsttum auf einem rekordhohen Niveau. Wie kam es dazu, daß das, was sich früher am Rande des katholischen Bewußtseins befand, zum Zentrum wurde, das weitaus den Katholizismus definiert? Diese Frage sucht John W. O'Malley S.J., Professor an der Weston School of Theology in Cambridge, Mass., USA, in diesem Artikel, welcher der Zeitschrift der nordamerikanischen Jesuiten, America, entnommen ist, zu beantworten

Alle haben versucht, ein Bild der großen Linien und Zusammenhänge zu schaffen. Wir wurden mit Fragen der Art bombardiert: Wer ist der Mann oder die Frau des Jahrhunderts - oder eher des Jahrtausends? Welche Ereignisse im vergangenen Jahrtausend haben den Gang der Geschichte am meisten verändert und erklären am besten, warum wir dort gelandet sind, wo wir uns jetzt - im Guten und im Schlechten - befinden? Und vielleicht das Faszinierendste von allem: Auf welche Weise unterscheiden wir uns von denen, die uns vorangegangen sind? Auch Katholiken wissen, daß sie in gewissem Maß von jenen Christen verschieden sind, die vor tausend Jahren lebten, auch wenn wir den gleichen Glauben bekennen und die gleichen Sakramente empfangen. Dann folgt die entscheidende und vielleicht beunruhigendste Frage - wie verschieden?

Als Kirchenhistoriker werde ich u.a. von der erstaunlichen Kontinuität in Glaube und Praxis beeindruckt, welche jahrhundertelang den Katholizismus gekennzeichnet haben. Wieder ein anderes Mal werde ich von einem Mangel an Kontinuität beeindruckt, einem Mangel, der gerade durch die radikalen stattgefundenen Veränderungen verursacht wurde, so daß es schwierig erscheint, Ähnlichkeiten mit der katholischen Vergangenheit zu entdecken. Ebenso wie meine Leser kann ich auf eine Menge von Veränderungen im Lebensstil, im Glauben und im Gebetsleben moderner christlicher Menschen hinweisen, die uns von jenen unterscheiden, die in früheren Jahrhunderten lebten. Einzelne davon sind ganz augenscheinlich: Wir feiern Gottesdienst in der Muttersprache und nicht auf Latein; wir feiern Gottesdienst in einer Gemeindekirche, nicht in einer Schloß- oder Hauskapelle oder in einer Kirche, die einer Ordensgemeinschaft gehört; wir glauben an Marias unbefleckte Empfängnis und ihre Aufnahme in den Himmel als Dogmen; wir fasten nicht mehr wie früher in der Fastenzeit, was früher in der kirchlichen Praxis so fundamental war, was aber jetzt aus verschiedenen praktischen Gründen verschwunden ist; man erwartet von Frauen nicht mehr, daß sie ihr Haupt bedecken, bevor sie eine Kirche betreten.

Wahrscheinlich könnten wir Unterschiede bis ins Unendliche aufzählen, aber es ist uns selbstverständlich ganz klar, daß einige der Veränderungen bedeutender sind als andere. Was sollte man darauf antworten, würde man gebeten, die wichtigste Veränderung unter den vielen in dieser langen Liste aufzuzeigen - die "Veränderung des Jahrtausends"? Für mich gibt es keinen Zweifel. Ich würde ohne Zögern antworten: "Die Verpäpstlichung des Katholizismus", ein Ausdruck, der in späterer Zeit für mich eine Realität wurde.

An den Papst glauben

Ich verwende diesen Begriff, denn er ist so grob erzeugt, daß er aufrüttelt und Aufmerksamkeit weckt und deshalb so richtig ausdrückt, worum es sich eigentlich dreht. Zu Beginn des vergangenen Jahrtausends - ja, tatsächlich so spät, als Luther seine 95 Thesen anschlug - wußten relativ wenige Christen, daß das Papsttum existierte, und in Wirklichkeit war es nur ein sehr kleiner Prozentsatz, der glaubte, dies habe überhaupt einen Zusammenhang damit, wie er sein Leben lebte. Wenn es das Papsttum überhaupt in ihrem Bewußtsein gab, so war das ganz peripher. Für Bischöfe und Fürsten war dies im besten Fall etwas ganz Fernes, ein Gericht, an das sie appellieren konnten, wenn es daheim zu anstrengend war. Im schlimmsten Fall erlebten sie es als einen politischen Rivalen und als eine Institution, die ihre ökonomischen Vorräte in Beschlag nahm.

Für die große Mehrzahl der Christen bedeutete hingegen das Papsttum, wenn sie überhaupt jemals davon reden gehört hatten, ungefähr ebenso wenig wie Namen wie Scotus und Ockham für moderne Katholiken. Und wo und wann sollten sie übrigens davon gehört haben? Nicht in Predigten. Ja, übrigens konnte es geschehen, daß Predigten am Tag der Apostelheiligen Petrus und Paulus nebenbei den "Stellvertreter des Petrus" erwähnten, aber auch das war eher die Ausnahme als die Regel. Im allerersten Teil des Jahrtausends gab es überhaupt keine Predigten, denen man zuhören konnte, und auch 500 Jahre später kamen sie eher sporadisch vor, auch wenn es sie dann öfter gab als früher. So war dies vor allem in den Dörfern, und dort wohnten ja die meisten Menschen.

Im Mittelalter bestand die Katechese, die Glaubensunterweisung, darin, das Glaubensbekenntnis, die wichtigsten Gebete, die Zehn Gebote oder die sieben Todsünden und außerdem vielleicht die Seligpreisungen und die Werke der Barmherzigkeit zu lernen. Im ersten gedruckten Katechismus sieht man am deutlichsten, wie der Glaubensinhalt vermittelt wurde - in diesem wurde die Unterweisung offenbar systematisiert. Das Papsttum wurde nicht erwähnt. Ein passender Zusammenhang, in dem es erwähnt werden hätte können, wäre das Glaubensbekenntnis: "Ich glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche." Aber als Antwort auf die Frage "Was ist die Kirche?" stellt der Katechismus ganz einfach fest, es sei "die Gemeinschaft der gläubigen Christen, die von Gott unserem Herrn geleitet und erleuchtet wird". Nicht mehr. Dies sollte uns vielleicht nicht überraschen - das Papsttum wird nur vom heiligen Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae erwähnt.

Heute Katholik zu sein, bedeutet jedoch, wie die meisten Katholiken und sicher alle anderen sagen würden, "an den Papst zu glauben". Es dürfte sehr wenige praktizierende Katholiken auf der Welt geben, die nicht wissen, daß der jetzige Papst Johannes Paul II. heißt. Aber wichtiger ist der Umstand, daß die Katholiken wissen, daß Johannes Paul II. "die Kirche leitet". Dies bedeutet unter anderem, daß er ihre Bischöfe ernennt, von denen die meisten Menschen offenbar meinen, sie seien "seine Repräsentanten". Die Bischöfe wiederum wählen die Priester aus. Die Katholiken (ebenso wie interessierte Außenstehende) wissen, daß es eine gerade Autoritätslinie vom nicht diskutablen administrierenden Direktor bis herunter zur lokalen Gemeinde gibt: Höchstwahrscheinlich hängt in jedem Pfarrhof an einem hervorragenden Platz ein Porträt des jetzigen Papstes. In vielen Kirchenräumen hängen päpstliche Fahnen.

Katholiken wissen auch, daß man von ihnen erwartet, daß sie "den Anordnungen des Papstes gehorchen", und zwar nicht nur dann, wenn es sich um solche geistliche Fragen handelt, die vor einigen Jahren aktuell waren, z.B. den Marxismus abzulehnen, sondern auch, wenn es um Dinge geht, die für den einzelnen so persönlich sind wie die sexuelle Beziehung zum Ehegatten. Für viele Katholiken ist das "die Kirche verbietet dies oder jenes" gleichbedeutend mit "der Papst verbietet es". Theologen wissen, daß es ebenso wichtig ist, in ihren Veröffentlichungen den gegenwärtigen Papst zu zitieren, wie es wichtig ist, die Schrift zu zitieren, was einen klaren Unterschied zur Zeit des Thomas von Aquin bedeutet.

Groß geschriebener Glaubenssatz

Wie konnte eine so radikale Umwälzung im Bewußtsein und in der Praxis stattfinden? Wie konnte sich eine Institution, die im besten Fall an der Peripherie lokalisiert war, zum Zentrum bewegen, das die ganze Kirche definiert? Wie geschah es, daß Mt 16,16 - "Du bist Petrus" - der groß geschriebene Glaubenssatz und das Symbol für ihre innerste Identität für römisch-katholische Christen wurde?

Oder ist es in Wirklichkeit immer so gewesen? War das Papsttum für Katholiken nicht immer ebenso wichtig wie heute? Ich fürchte, die meisten von uns haben die Kirchengeschichte und die Geschichte der abendländischen Zivilisation auf eine Weise gelehrt bekommen, die uns glauben ließ, das Papsttum sei vom allerersten Beginn an oder zumindest vom Investiturstreit vor 1000 Jahren an der wichtigste Faktor im katholischen Leben gewesen. Diesen Eindruck erhalten wir, zumindest unbewußt, aus vielem, was wir über die Geschichte der Christenheit lesen oder hören. Die Ursache ist zum Teil die fast unausrottbare Gewohnheit, über die Kirche und die Geschichte "von oben nach unten" zu lehren. Es ist leichter, über die Geschichte auf diese Weise zu lehren, als sich auf die oft diffuse Geschichte "gewöhnlicher Christen" zu stützen. Es ist auch wichtig, daß man, wenn man Geschichte unterrichtet, den wichtigsten Gestalten ihren gebührenden Platz einräumt. Wir würden z. B. unsere derzeitige religiöse Situation kaum verstehen, wenn wir nicht Luther und die Päpste studierten, die ihm Widerstand leisteten. Dennoch werden wir durch die "von oben nach unten"- Lesung in die Irre geführt, so daß wir glauben, die Päpste seien für die gewöhnlichen Menschen ebenso wichtig wie für Luther gewesen.

Ein weiterer Faktor spielt hier eine Rolle, nämlich daß wir immer auf eine Weise von unseren eigenen Fragen und unserer eigenen Situation ausgehen, die fast unvermeidlich die Vergangenheit für uns verfälscht. Im Laufe der letzten 50 und vor allem der letzten 20 Jahre war ein Sprechen über den Katholizismus gleichbedeutend mit einem Sprechen über den Papst - oder es war kaum möglich, in einem besonderen Ausmaß über den Katholizismus zu sprechen, ohne den Papst zu erwähnen. Das Interesse für das Papsttum liegt auf einem rekordhohen Niveau. Es ist schwierig, bezüglich der Anzahl der Biographien von Papst Johannes Paul II. auf dem Laufenden zu sein. Und seit 1997 erschienen vier große Werke auf Englisch über die Geschichte des Papsttums. Das erste war Eamon Duffys Bestseller Saints and Sinners. In diesen Büchern werden bestimmte Päpste als entschieden wichtiger als andere dargestellt, aber der grundlegende Eindruck, den der Leser erhält, ist der, daß zu allen Zeiten aller Augen auf diese leitenden Gestalten der Christenheit gerichtet waren.

Dies verleitet uns, das Gewicht auf eine falsche Stelle zu legen, und gerade das ist der Fehler, den Historiker am leichtesten begehen - es ist auch der folgenschwerste: Was Historiker behaupten, ist an und für sich wahr, aber sie verfälschen implizit die Bedeutung dessen, indem sie es im großen Zusammenhang nicht auf den rechten Platz stellen. Ein Beispiel: 95% der europäischen Christen hatten nicht die geringste Ahnung, daß etwas im Gange war, als sich der Investiturstreit auf seinem Höhepunkt befand und die Soldaten des Kaisers und des Papstes einander niedermachten. Aber aus unseren Geschichtsbüchern erhalten wir den Eindruck, dies seien Schlagzeilen in den Nachrichten gewesen, auch wenn wir uns andererseits klar darüber sind, daß es um das Jahr 1000 keine Schlagzeilen gab.

Von der Sonderstellung zum Oberhaupt

Soweit ich verstehen kann, erklären drei Faktoren gemeinsam unsere derzeitige Situation. Den ersten Faktor habe ich bereits beschrieben: Die Art, wie unsere moderne Geschichte geschrieben wird, und unsere Neigung, sie zu interpretieren. Den zweiten Faktor deutete ich an, als ich Schlagzeilen erwähnte: Die immer größer werdende Geschwindigkeit aller Kommunikation, die mit der Erfindung der Buchdruckerkunst im 15. Jahrhundert begann und die sich bis zur Entwicklung in unserer Zeit mit aller Art von elektronischer Kommunikation einschließlich des in diesem Zusammenhang unansehnlichen Telephons fortgesetzt hat. Heute ist es sozusagen möglich, jeden Atemzug der Weltleiter, einschließlich des Papstes, zu zählen. Und umgekehrt: Die Leiter ihrerseits können weithin unsere Atemzüge zählen. Dies ist in der Weltgeschichte - und in der Kirchengeschichte - etwas Neues.

Der dritte Faktor sind die Veränderungen, die das Papsttum im letzten Jahrtausend durchgemacht hat. Ich weiß, daß es nicht notwendig ist, darauf hinzuweisen, daß der Bischof von Rom vom ersten Jahrhundert an eine Stellung hatte, die besonderen Respekt erforderte und ihm tatsächlich einzigartige Privilegien verlieh. Dennoch waren es im ersten Jahrtausend nicht die Päpste, welche die Kirche "leiteten" oder den Anspruch erhoben, dies zu tun. Sie verkündeten keine Dogmen, sie schrieben keine Enzykliken, sie beriefen keine Bischöfe zum Ad-Limina-Besuch ein, damit sie sich dort vor einer höheren Instanz verantwortet hätten. Sie beriefen keine ökumenischen Konzilien ein und hatten dort nicht den Vorsitz. In Wirklichkeit war ihre Rolle bei den ersten acht Konzilien meist unbedeutend. Im frühen Mittelalter (und auch weit später) war die Hauptaufgabe des Papstes, wie viele glaubten, die Gräber der Apostel zu bewachen und der feierlichen Liturgie in den großen Basiliken vorzustehen. In dieser Zeit traten die Päpste hauptsächlich als Personen auf lokaler Ebene auf, ihre Aufmerksamkeit war auf lokale Fragen gerichtet, auch wenn natürlich einige von ihnen eine breite Vision davon hatten, was ihre Aufgabe war, und sie mit den Leitern der Gesellschaft über wichtige Fragen verhandelten.

In Verbindung mit dem Investiturstreit geschah etwas, was zweifellos entscheidende Bedeutung für die Entwicklung sogar bis in unsere Tage hatte Ich denke da an die gregorianische Reform im 11. Jahrhundert, zu Beginn des Jahrtausend, das nun endet. Die gregorianischen Reformatoren, die sich auf echte oder gefälschte kanonische Quellen stützten, stellten Ansprüche bezüglich päpstlicher Autorität,, die eine eigenartige Mischung von alten Privilegien und überraschenden neuen Forderungen waren, daß sowohl weltliche als auch kirchliche Leiter sich päpstlichen Beschlüssen unterwerfen sollten. Unter den neuen Forderungen befand sich das Recht des Papstes, den Kaiser abzusetzen. Das alte Axiom, der Papst solle von niemandem verurteilt werden, außer wenn er klar und deutlich vom Glauben abwiche, wurde zu dem einfachen Satz verkürzt, "der Papst solle von niemandem verurteilt werden".

Eine wirksame ideologische Maschine wurde damals in Bewegung gesetzt. Während aber für die gregorianischen Reformatoren der Papst immer noch bloß der "Stellvertreter des Petrus" war, ernannte Papst Innozenz III sich gut hundert Jahre später selbst zum "Stellvertreter Christi". Der Titel festigte sich und ist heute weitaus bekannter als das ehrerbietige "Diener der Diener Gottes". Als die Monarchien Englands und Frankreichs sich aus einem formlosen Feudalismus emporhoben, entwickelte das Papsttum eine gleichartige monarchische Struktur und Selbstdefinition. Als die Päpste in Avignon Hof hielten, gingen sie damit voran, eine wirksame Bürokratie zu entwickeln

Die nächste große Veränderung erfolgte mit der Reformation. Die ausdrückliche Zurückweisung des Papsttums durch die Protestanten bewirkte, daß dieses im katholischen Bewußtsein eine besonders hervorragende Position erhielt. Die Katholiken, die von ihren Feinden Papisten genannt wurden, begannen, sich in der Zurücksetzung zu sonnen. In der Mitte des 14. Jahrhunderts hatten katholische Katechismen der traditionellen Definition der Kirche den Vorbehalt hinzugefügt: "Unter Leitung von Petrus und seinen Nachfolgern, den Stellvertretern Christi". Eine bedeutende Veränderung im Selbstverständnis der Katholiken hatte stattgefunden.

Darin lag eine bedeutungsvolle Ironie. Obwohl fast jede protestantische Kirche oder Sekte das Papstamt zurückwies und es auslöschen wollte, setze dennoch das Konzil von Trient in seiner achtzehnjährigen Geschichte die Frage nicht auf die Tagesordnung. Die Frage nach dem außerordentlichen Charakter und dem Umfang der päpstlichen Autorität war nämlich auch unter Katholiken zu brisant, als daß das Konzil darüber eine Entscheidung hätte treffen können. Die Konzilsväter fuhren heim, aber der Papst blieb auf seinem Posten. Noch etwas mehr Ironie: Die Reformation stärkte nicht nur das Papsttum in jenen Teilen Europas, die katholisch blieben, das Konzil von Trient tat dies ebenfalls, indem es nichts darüber sagte.

Dennoch hatte das Papsttum auf wichtige Bereiche des katholischen Leben keinen Einfluß und stellte auch keinen Anspruch darauf. Die großen Missionsunternehmungen wurden hauptsächlich von großen religiösen Ordensgemeinschaften und von den Königen Spaniens, Portugals und Frankreichs geleitet. Daß die Päpste 1622 die Propaganda Fide (Kongregation für die Glaubensverbreitung) errichteten, bedeutete keine entscheidende Veränderung der Situation auf lange Zeit hinaus. Die Universitäten, welche die Jesuiten ringsum in der Welt gründeten, waren nur sich selbst und ihren Ordensoberen verantwortlich.

Massenmedien und "Papamobile"

Die Zeit der Aufklärung , die französische Revolution und die Liberalen des frühen 19. Jahrhunderts fügten dem Papsttum ernsten Schaden zu, aber wieder einmal goß ein Feind neues Leben in das Ganze ein: "il Risorgimento". Als Garibaldis Truppen 1870 Rom eroberten, verwandelte Pius IX das Ereignis zu einer großen Dramatik, indem er sich im vatikanischen Bereich der Stadt einschloß. Die Katholiken auf der ganzen Welt wußten, daß der Papst nun "im Vatikan gefangen" war, und überschütteten ihn mit Sympathie. Die Nachricht hatten sie den Zeitungen entnommen, die damals schnell über Meldungen dieser Art verfügten, da der Telegraph bereits erfunden und das transatlantische Kabel 1866 verlegt worden war. Die Katholiken wußten, wie der Papst hieß, und sie hatten vielleicht sogar ein Foto von ihm gesehen. Die Huldigung des Papstes erhielt ihre erste Ausformung. Pius IX zog später die Blicke aller auf sich und erweiterte unerschrocken seinen Amtsbereich, indem er der erste Papst war, der ein Dogma verkündete, das Dogma von der unbefleckten Empfängnis, und indem er Papst war, als das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes verkündet wurde.

Gleichzeitig hatten die Päpste begonnen, Enzykliken zu veröffentlichen. Also waren sie nicht mehr nur Richter in Glaubensfragen; sie wurden selbst zu Lehrern. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war das Verfassen von Enzykliken zu einem Teil der Arbeitsbeschreibung der Päpste geworden. Dazu gehörte auch die Ernennung von Bischöfen. Im 11. Jahrhundert kämpften die gregorianischen Reformpäpste hart für "die kanonische Wahl der Bischöfe", d.h. sie setzten sich dafür ein, daß die Bischöfe durch die Priesterschaft gewählt und nicht einfach von lokalen Größen oder vom König ernannt werden sollten. Zum Ende des 20. Jahrhunderts ist nun die letzte Spur der Tradition, daß die Bischöfe durch die Priesterschaft gewählt werden sollten, ausgelöscht. Der Papst ernennt die Bischöfe - keine Abstimmung, danke!

Gleichzeitig war das Tor zum Gefängnis Vatikan durch Übereinkommen zwischen dem Vatikan und der italienischen Regierung weit geöffnet. In der Peterskirche und im päpstlichen Palast wurden Filmkameras erlaubt, und Millionen auf Millionen von Menschen aus der ganzen Welt konnten sehen, wie Pius XI., Pius XII. und Johannes XXIII. ihren Segen spendeten. Die Päpste, die keine Gefangenen mehr waren, begannen zu reisen. Düsenflugzeuge erleichterten dies. Papamobile hatten die gleiche Wirkung.

Und der Rest ist, wie man sagt, Geschichte. Was mich am meisten fasziniert, ist jedoch nicht, wie sehr sich das Papsttum in dem Jahrtausend verändert hat, das gerade hinter uns liegt, sondern wie sehr diese Veränderungen uns verändert haben. Das Papsttum ist nicht mehr das, was es einmal war. Aber aus demselben Grund sind auch wir es in großem Maße nicht mehr.

Aus St. Olav, katholische Zeitschrift für Religion und Kultur, 10/2000
Übersetzung: Friedrich Griess