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I god tro [In gutem Glauben]

- Die Sekten vergewaltigen uns mental, sagt Pål Hilmar Sollie, der nach einer Kindheit bei den Zeugen Jehovas dort ausbrach. Aber in der Großgesellschaft können sich Ausbrecherkinder ebenso isoliert fühlen.

Von ALEXANDRA BEVERFJORD

Samstag 10. November 2001

«Ich hatte keinen Ort, wohin ich hätte gehen können. Die Sekten vergewaltigen die Jugendlichen psychisch.» Pål Hilmar (33)

Foto: JØRN H.MOEN

AN EINEM SOMMERTAG 1987 stand der 20-jährige Pål Hilmar Sollie außerhalb des Gemeindelokals. Drinnen wurde sein Kamerad vom Ältestenrat der Zeugen Jehovas verhört. Beide wurden wegen Rauchens angeklagt, das streng verboten ist. Einer, der Pål nahesteht, hat sie verraten.

Nach einer Weile kommt der Kamerad weinend heraus. Er versuchte zu leugnen, aber man glaubte ihm nicht. «Du bleibst nicht allein», sagt Pål, als er hineingeht. Dort erwarten ihn drei erwachsene Männer. Paul gibt das Rauchen zu. Und noch mehr: Er spricht von Feiern. Und von Sex.

Er hat genug vom System. Nun will er hinaus.

- Du verstehst wohl auf Grund dessen, was du sagt, daß du ausgeschlossen bist. Frage den Ältestenrat. Pål nickt. Dann ruft Pål die Eltern an und erzählt, was geschehen ist. Er ist erleichtert. Glücklich.

Die Eltern sind am Boden zerstört. Der Sohn existiert für die Gemeinde nicht mehr.

Zwei Jahre später ist Pål wieder im Gemeindelokal Er schwankt zwischen Zweifel und Glauben. Niemand grüßt ihn. Sie sehen durch ihn hindurch. Aber im Laufe des Treffen wird Pål immer sicherer. Er versteht, daß er das einzig Richtige getan hat.

Der Informationsverantwortliche bei den Zeugen Jehovas, Tom Frisvold, bestätigt, daß die Mitglieder den Ausschluß riskieren, wenn sie gegen wichtige Punkte der Glaubensgrundlage verstoßen.

- Die Bibel sagt, daß wir mit den Betreffenden nicht jenen sozialen Kontakt haben sollen, den wir vorher hatten. Die Gemeinde befolgt dies, aber es sind die geistigen Bande, nicht die Familienbande, die gebrochen werden.

- Ist das schwierig?

- Der Prozeß, der dann zu einem Ausschluß führt, ist immer zunächst vom Wunsch geprägt, dem Betreffenden wieder auf den rechten Weg zu helfen. Wenn dies nicht zum Ziel führt, dann meinen wir, daß es traurig und schwierig ist. Der oder die Ausgeschlossene kann - wenn er oder sie es selbst wünscht - hernach von jemandem aus der Gemeinde besucht werden. Ich glaube nicht, daß es oft vorkommt, daß jemand nach dem Ausbruch in psychische Probleme gerät.

AM MONTAG (12.11., d. Übers.) FINDET DIE KONFERENZ «I god tro» statt. Sie dreht sich um das Aufwachsen von Kindern in isolierten Glaubensgemeinschaften. Das Redd-Barna-Projekt Go-On steht hinter der Veranstaltung. Das Pilotprojekt wurde von Jugendlichen in Gang gesetzt, die selbst ausgebrochen waren.

- Die meisten, die aus einer Sekte ausbrechen, geraten in große psychische Probleme, sagt Pål Hilmar Sollie.

- Den Kindern wird beigebracht zu glauben, daß die Großgesellschaft der Teufel ist. Ausbrechen ist, wie wenn man in eine neue Welt käme. Go-On soll den Übergang aus der Sekte erleichtern, sagt die Anwältin Turid Berger, die das Projekt leitet.

- Wenn Erwachsene aus einer religiösen Glaubensgemeinschaft ausbrechen, dann haben sie in der Regel andere Netzwerke und Verwandte, an die sie sich wenden können. Kinder, die in Sekten aufgewachsen sind, haben oft außerhalb nichts, sagt die Jugendwohlfahrtspädagogin Ellen Kartnes.

Berger und Kartnes haben fast 30 Jahre Erfahrung in der Jugendwohlfahrt. Aber sie wußten wenig über Kinder in Glaubensgemeinschaften, als sie mit Go-On begannen:

- Das ist ein Nicht-Thema. Auf diesem Gebiet wird wenig geforscht. Und der Hilfsapparat hat keine Angebote für Jugendliche, die ausbrechen, sagt Berger.

PÅL BEGANN AM REDNERPULT als Siebenjähriger. Er deklamierte Bibelverse. Er läutetet gerne bei Leuten an, verteilte eifrig den Wachtturm. Er wuchs ohne Weihnacht und ohne Geburtstag auf. Die Kindererziehung war streng. Pål wurde mehrmals mit Birkenreisig geschlagen.

Die Jugendlichen wurden aufgefordert, einander bei der Gemeinde zu verpetzen. Es war schwierig, Gleichaltrigen zu vertrauen. Aber die Propheten des Strafgerichts prägten ihm die tiefsten Spuren ein.

- Ich fürchtete mich die ganze Zeit hindurch vor dem Tod. Alle, die nicht den Zeugen Jehovas angehörten oder nicht gut genug waren, sollten sterben. Ich war nicht brav genug, um weiterzuleben. Ich war mir sicher, daß ich nicht älter als 10 - 15 Jahre würde.

Der Gedanke an den Untergang prägte ihn noch lange, nachdem er ausgeschlossen worden war. - Ich hatte keinen Ort, wo ich hingehen hätte können. Die Lehrer und der Hilfsapparat wußten ja, daß ich bei den Zeugen Jehovas war, aber niemand tat etwas. Sie hätten mit mir sprechen sollen, ohne meine Eltern auf die Zehen zu treten. Die Sekten vergewaltigen die Jugendlichen psychisch.

- Kinder sind konkreter. Sie haben nicht den gleichen Abstand wie die Erwachsenen. Die Eltern wollen ihnen den Unterschied zwischen Gut und Böse beibringen. Die Frage ist nur, wieviel vom Bösen die Kinder ertragen. Die Eltern riskieren, die Kinder zu verängstigen, sagt der Psychiatrieprofessor Nils Johan Lavik, der das Buch «Frelst eller forført» [ «Erlöst oder verführt»] über psychologische Beeinflussung in neureligiösen Sekten verfaßt hat. [Anm. d.Übers.: Das Buch ist in deutscher Sprache in der Website http://sektinfo.org verfügbar.] Er weist darauf hin, daß das Aufwachsen in einer isolierten Glaubensgemeinschaft auch viele positive Dinge mit sich bringen kann, wie Wärme, Fürsorge und Struktur.

- Die Kinder, die sich befreien, verlieren ihre Zugehörigkeit und müssen sich eine neue schaffen. Es ist wichtig, daß wir den Erzählungen der Ausbrecher Glauben schenken.

- ICH STAND VOR DEM NICHTS, als ich ausgeschlossen wurde. Ich traf auf kein Verständnis der Gesellschaft und konnte mich auf niemanden stützen. Es wurde ein einsamer Prozeß, sagt Pål.

Zuerst wohnte er in seinem Heimatort.

- Es ist schwierig, wenn einen alter Freunde auf der Straße nicht grüßen. Sie behandeln dich, als ob du aussätzig wärest. Ich bekam eine Anstellung beim Lokalradio, und zunächst ging ich völlig in meinem Job auf. Für manche kommt der Umsturz sofort. Ich stieß fünf bis sechs Jahre nach meinem Ausstieg an eine Wand, verlor das Interesse am Allermeisten, blieb sitzen und starrte auf die Wand. Das war hart.

Zuletzt wurde Pål verdammt.

- Die Depression ging vorbei und wich einem gesunden Zorn - einer gerechten Wut. Ich hatte mich mit Angst und Wahnvorstellungen über Gott abgeplagt. Ich bemühe mich weiterhin, das zu verarbeiten, was geschehen ist.

Es dauerte zehn Jahre, bis Pål endlich Ruhe fand. Heut ist er 33, frisch verheiratet und bald Vater. Und er hat mit seinen Eltern wieder guten Kontakt gefunden.

-Ich fühle nun, daß sie mich akzeptieren.

- IN DER GEMEINDE ZU SEIN ist wie in einem Raumschiff zu leben. Eingesperrt und isoliert. Ausgeschlossen zu werden war wie in den Weltraum hinausgeschickt zu werden, eine allzu überwältigende Freiheit, berichtet «Ida» (28). Sie erzählt, daß die Eltern aus den Smiths Freunden, auch Die Christliche Gemeinde genannt, ausgeschlossen wurden, als sie gegen 20 war.

- Es war so, als ob sie uns inständig haßten. Sie riefen, schrien und verfluchten uns vom Rednerpult aus, weil wir mit der Leitung uneinig waren. Wir wurden Gruppendruck und Drohungen ausgesetzt. Als wir weiterhin kritische Fragen stellten, wandten alle uns den Rücken zu. Das war eine lebendige Hölle.

- Es kam vor, daß sich Ida bei den Treffen übergeben mußte, in der Nacht Albträume hatte, gefolgt von Schweißausbrüchen und Zittern.

Das Aufwachsen in der Sekte bereitete Ida viele Probleme. Die Frauen hatte lange Zöpfe und lange Röcke. Alle in der Schule wußten daher, wer Ida war.

- Ich sah anders aus, war verschämt und brav. Das perfekte Opfer für Mobbing. «Zopfsekte», «gemeine Hure» riefen die anderen Kinder. Sie zogen mir den Rock hoch, ich stand mitten im Schulhof nur in der Unterhose da ... das war fürchterlich.

Daß Ida nicht ins Kino gehen durfte, nicht fernsehen, tanzen oder Illustrierte lesen durfte, verminderte nicht den Abstand zu den Gleichaltrigen.

- Alles außerhalb der Smiths Freunde war Sünde. Die Welt war schwarz, alle anderen egoistisch.

Als sie in das Teenageralter kam, begann sie Fragen zu stellen. Dehnte die Grenzen aus. Formte das Haar zu einem Pferdeschwanz, änderte die Kleidung.

- Ich wehre mich vor allem gegen die Ansicht über die Frauen. Dagegen, daß die Brüder alles entscheiden sollten. Die Frauen sollten schweigen, daheim bleiben und möglichst viele Kinder gebären. Es graute mir vor der Heirat. Wir wurden indoktriniert und mental vergewaltigt. Versammlungen und Gebete die ganze Zeit hindurch. Ich wurde recht und schlecht krank. Bekam früh Streßreaktionen, konnte mich nie entspannen.

NACH DEM AUSSCHLUSS WAR IDA VERWIRRT und hatte Angst. Denn auch die Freiheit war erschreckend.

- Ich wußte nichts darüber, wie die Gesellschaft außerhalb funktionierte. Nimm z.B. Dating, ich kannte keinen der Codes. Andere Mädchen hatten geflirtet und sich Burschen angenähert, seitdem sie klein waren. Für mich war der ganze Prozeß unverständlich. Die Burschen, die ich traf, fragten sich, was mit mir nicht in Ordnung war. Und tanzen! Ich fühlte mich anfangs steif wie ein Stock.

Ida mußte eine ordentliche Abrechnung mit sich selbst machen. Sie mußte von Neuem beginnen, alles revidieren, und selbst herausfinden, wer sie eigentlich war

- Ich war unselbständig, verkrampft und geniert. Heute bin ich extrovertiert und habe Selbstvertrauen. Ich mußte wahnsinnig mit mir selbst arbeiten und ich habe mir die Codes beigebracht. Ich fühle mich frei ... frei, genau die Kleider anzuziehen, die ich möchte, und die Musik zu hören, die mir gefällt. Ich freue mich so über die kleinen Dinge.

DIE CHRISTLICHE GEMEINDE, oder die Smiths Freunde, behaupten, daß die Gemeinde niemanden ausschlösse.

- Wenn jemand mit der Glaubensgrundlage bricht, kann er oder sie nicht mehr an der Gemeinde teilnehmen. Aber das ist kein Ausschluß, sie können weiterhin zu den Treffen kommen. Wir haben Jugendliche, die sich entschlossen haben, sich zurückzuziehen. Mit vielen von ihnen haben wir normale Kontakte. Oft kommen sie auf unser Sommerlager, um alte Bekannte zu treffen. Oft nehmen sie auch ihre Kinder mit, um ihnen zu zeigen, wie ihre Kindheit war. Sie sehen die Kindheit in der Gemeinde positiv, sagt der Informationsverantwortliche Svein Kronstad. Was die Kindererziehung betrifft, sagt Kronstad, daß die Gemeinde wie alle anderen die norwegischen Gesetze befolgt und daß sie von Gewaltanwendung Abstand nehmen.

- Kann der Kleidungsstil für junge Mädchen eine Belastung sein?

- Es gibt immer jemanden, der mehr oder weniger dem Mobbing ausgesetzt ist. Ich habe selbst eine große Familie, aber unsere Kinder haben davon nichts gemerkt.

- KINDER HABEN KEIN FILTER. Kinder sind sehr loyal und können schwer glauben, daß Erwachsene und Autoritäten Fehler machen. Wenn sich Kinder mit dem System abfinden, können sie ihr Dasein wohl als sicher und gut erleben. Wenn sie sich mit dem System überwerfen, dann melden sich die Probleme. Man wächst mit einem falschen Wirklichkeitsbild auf. Wenn man das entdeckt, bricht die Welt zusammen, sagte Lektor Arne Tord Sveinall vom Institut für Seelsorge in Modum Bad, der das Buch «Troende til litt av hvert» [«Glaubende an ein Bißchen von allem»] über religiöses Sektentum verfaßt hat.

In Norwegen wurde fast keine Forschung bezüglich Kinder in isolierten Glaubensgemeinschaften unternommen. Sveinall ist einer der wenigen Fachleute, die ehemaligen Sektenmitgliedern Hilfe anbieten.

- Wenn sie ausbrechen, behalten sie oft ihr Schwarz-Weiß-Denken bei. Vorher war die Sekte weiß und die Umwelt schwarz, nachher ist es umgekehrt. Um einen guten Prozeß in Gang zu bringen, müssen sie erst beginnen zu nuancieren. Man muß sich erlauben, auch die guten Erlebnisse in Erinnerung zu behalten.

GO-ON MEINT, DASS VIELE der religiösen Bewegungen in Norwegen sich mit der Kinderkonvention sowohl bezüglich physischer als auch psychischer Übergriffe überwerfen.

- Kinder haben Recht auf Äußerungsfreiheit, Religionsfreiheit und Gedankenfreiheit. Sie haben Recht auf ordentliche Ausbildung und sie haben Recht auf Gesundheit. Wir meinen, daß viele Rechte der Kinder durch Sekten verletzt werden. Durch diese Arbeit haben wir von Abstrafungen gehört, die nichts von dem gleichen, was wir in unserer Arbeit in der Jugendwohlfahrt gesehen haben. Physische und psychische Abstrafungen werden systematisch ausgeübt. Es sieht sie so aus, als ob diese planmäßig und wohlüberlegt angewendet würden.

Abstrafungen können Isolation von anderen und von der Gemeinschaft sein. Redeverbot für lange Zeit, verschiedene Formen des Schlagens und Demütigung vor der ganzen Gemeinschaft.

Eine der Jugendlichen, die sich mit Go-On in Verbindung setze, berichtete, daß sie ein ganzes Jahr außerhalb der Sekte benötigte, bevor sie entdeckte, daß sie einen ganz selbständigen Gedanken dachte.

Einige brechen aus, weil sie es nicht mehr aushalten. Andere werden aus disziplinären Gründen hinausgewiesen.

- Die Sekten haben oft eine veraltete Sicht der Kinder. Einigen Jugendlichen, die wir trafen, wurde beigebracht, alles mit Bibelzitaten zu behandeln. Sie dürfen sich nicht von ihren eigenen Voraussetzungen aus entwickeln, sagt Ellen Kartnes. Sie bemüht sich darum, daß dem Hilfsapparat das Problem bewußt wird.

- Daß die Sekten so isoliert sind, erfordert, daß sich der Hilfsapparat besonders darum kümmert. Viele Sektenkinder, die ausbrechen, gehen in den Großstädten an Drogensucht und Prostitution zugrunde. Sie haben kein Netzwerk.

- ICH BRAUCHTE MEHRERE JAHRE, um Ordnung in mein Leben zu bekommen. Das Ausbrechen war schmerzhaft und chaotisch, berichtet Andrew (25), einer der jungen Menschen, welche die Initiative zu Go-On ergriffen. Vor acht Jahren war er ausgebrochen. Er wuchs in «The Family» auf, die früher als die «Children of God» bekannt waren. Diese weltumspannende Bewegung wurde in den Sechzigerjahren von David «Moses» Berg gegründet und rekrutierte Mitglieder in großem Stil aus der Hippiebewegung.

Andrew ist der Zweitälteste aus einer Geschwisterschar von sieben. Die Eltern wurden geschieden, als er klein war. In seiner Kindheit übersiedelte Andrew von Land zu Land und wohnte teils bei seinem amerikanischen Vater in Dänemark, teils bei seiner norwegischen Mutter in Norwegen.

Eines Tages erzählte der Vater, daß Andrew und sein älterer Bruder mit nach Indien sollten.

- Mir schien das sehr spannend zu sein. Wir sangen und spielten auf der Straße, um uns die Fahrkarten leisten zu können. Die älteren Damen gaben viel Geld.

In Indien wohnte die Familie in den Wohnkollektiven der Sekte. Die Knaben erhielten Hausunterricht. Als Andrew 11 Jahre alt war, wurden er und sein Bruder dazu ausersehen, an einem «Teen Training Camp» auf den Philippinen teilzunehmen. Der Vater übersiedelte mit seine neuen Frau zurück nach Dänemark.

- Dorthin geschickt zu werden war eine Ehre. Wir sollten dazu trainiert werden, zu überleben, wenn die Welt untergehen werde. «The endtime teens» nannten sie uns.

- Jeden Tag mußten die Jugendlichen einen sogenannten Open Heart Report abgeben, in dem sie ihre innersten Gedanken berichteten. Später lernte Andrew zu lügen. Die Alternative war Gehirnwäsche.

- Machten wir etwas falsch, wurden wir bestraft, gerne öffentlich. Physisch oder psychisch, indem wir Redeverbot bekamen. Einer meiner Kameraden wurde angeklagt, Ohrpfropfen gestohlen zu haben. Er bekam 40 Schläge mit einer Art durchlöchertem Brett. Hernach durfte er einen Monat lang nicht sprechen. Für mindere Vergehen bekamen sie Anmerkungen. Nach drei Anmerkungen mußten sie um das Lager herumlaufen und sit-ups und Armhebungen machen.

Andrew hatte Malaria bekommen. Er vermißte die Mutter und die Geschwister. - Ich glaube nicht, daß meinen Eltern klar war, wie schlimm das war. Ich glaube, auch alle die anderen in The Family wußten es nicht.

Andrew wohnte acht bis zehn Monate auf den Philippinen. Dann übersiedelte er zurück nach Europa, wo er in Internatsschulen wohnte

UNGARN, 1. APRIL 1993: Der Morgen graut. Vier junge Burschen stehlen sich heimlich aus der Wohngemeinschaft der Bewegung davon. Alle im Alter von 14 bis 18. Sie gelangen ins Dorf hinunter und rufen die Großeltern am, um Hilfe zu bekommen. Fünf Stunden später erhalten die Ausreißer Geld überwiesen. Noch drei Burschen warten in der Wohngemeinschaft. Nun haben sie genug, daß sich alle sieben ihre Fahrkarten kaufen können - hinaus in die Welt.

Der 16-jährige Andrew und ein Kamerad beschließen, in die USA zu reisen. Einige Tage später besteigen sie ein Flugzeug nach Michigan. Zwei Jahre lang haben sie auf diesen Tag gewartet.

- Das war unglaublich stark. Plötzlich war ich frei.

Andrew träumte davon, eine Ausbildung zu machen, jene Musik hören und jene Bücher lesen zu dürfen, die er wollte. Er träumte vom normalen Leben eines Teenagers. Andrew übersiedelte zu den Großeltern des Kameraden. Fünf Tage, nachdem er die Sekte verlassen hatte, begann er auf der High School. Soweit er dazu die Erlaubnis erhielt, denn er hatte keine Zeugnisse über einen früheren Schulbesuch.

«Einer meiner Kameraden wurde angeklagt, Ohrpfropfen gestohlen zu haben. Er bekam 40 Schläge mit einer Art durchlöchertem Brett.» Andrew (25)

ALS 17-JÄHRIGER KAM ANDREW NACH NORWEGEN. Hier gab es keinen Unterstützungsapparat. Er mußte ein Studiendarlehen aufnehmen, um die weiterführende Schule abschließen zu können. Mutter und Vater wohnten zu dieser Zeit im Ausland. Der 15-jährige jüngere Bruder kam nach, auch er brach mit der Sekte. Die Verantwortung für den Bruder, die Probleme mit der Vergangenheit und die Einsamkeit bewirkten, daß Andrew krank wurde. Er konnte weder essen noch trinken. Schließlich wurde er ins Krankenhaus eingeliefert, um intravenös ernährt zu werden. Hier konnte er zum ersten Mal mit einem Psychologen sprechen. Psychologische Hilfe erhielt er auch während des Militärdienstes. Während dieser Gespräche tauchte die Idee auf, ein Hilfsangebot für Sektenkinder zu starten.

Andrew kam später mit anderen Ausbrechern von The Family in Kontakt. Gemeinsam gingen sie zum ehrenamtlichen Mitarbeiter Dag Hareide. Der damalige Kirchen-, Unterrichts- und Forschungsminister Jon Lilletun und Redd Barna wurden kontaktiert, das Projekt erhielt Mittel vom Ministerium, und Go-On wurde auf die Beine gestellt.

DIE KONTAKTPERSON FÜR THE FAMILY in Norwegen, David Lykins, berichtet, daß die Eltern die Hauptverantwortung für das Wohlergehen des Kindes tragen:

- Einige Eltern sind liberal, andere sind streng. Das ist auch davon abhängig, in welcher Gesellschaft und wo auf der Welt die Eltern leben. Die Rechte der Kinder und die Verantwortung der Eltern sind in unserem Reglement beschrieben. Hier wird u.a. festgestellt, daß man die Kinder lieben, ihnen gefühlsmäßige Unterstützung geben und sie vor jedem Schaden beschützen soll.

- Läßt The Family physische Abstrafung von Kindern zu?

- Es wird erwartet, daß die Eltern den Kindern eine solche Erziehung angedeihen lassen, daß Abstrafungen unnötig werden. Man muß die Kinder respektieren und ihnen die richtigen Entscheidungen ermöglichen. Wenn Verbesserungen notwendig sind, kann man entweder Enttäuschung ausdrücken oder ihnen vorübergehend Privilegien wie Fernsehen entziehen - das hängt vom Alter des Kindes ab. Das Reglement der Family erlaubt den Eltern auch zu schlagen, aber unter strenger Anleitung und nur als ein letzter Ausweg. Aber das soll nicht im Zorn oder so geschehen, daß es körperliche Schäden verursachen kann, sagt Lykins.

The Family stand international unter Nachforschungen wegen sexueller Übergriffe gegen Kinder, wurde aber freigesprochen.

HEUTE IST ANDREW STUDENT an der Universität in Oslo. Derzeit studiert er Philosophie als Grundfach.

- Die Mitglieder in The Family sind nur Menschen. Sie handeln im guten Glauben. Außerdem hat sich die Bewegung sehr verändert, seitdem ich dabei war.

- Was scheint dir am problematischsten zu sein?

- Daß ich keine objektive Ausbildung erhielt. Daß ich nur missionieren lernte.

Andrew pflegt nicht über die Vergangenheit zu sprechen. Aber er ist sehr resourcestark - er hat es geschafft. - Die Übergangsphase von der Sekte zum Rest der Welt ist schwierig. Ich ahnte nicht, was mich erwartete, als ich die Sekte verließ. Sektenkinder, die ausbrechen, sind stark, aber auch sehr verwundbar. Manche enden auf der Straße als Prostituierte oder Drogensüchtige. Einige haben sich das Leben genommen.

- Dein heutiges Verhältnis zur Religion?

- Ich habe kein Verhältnis zu irgend einer Religion. Ich bin nicht religiös.

SYLVIA (20) VERLIESS EBENFALLS THE FAMILY als Teenager. Sie übersiedelte zu Onkel und Tante, Ellinor und Dag Hareide, in Norwegen. Die Mutter ist Norwegerin, der Vater Däne. Die Familie reiste mit der Bewegung in Asien umher.

- Ich möchte sagen, daß wir eine ziemlich normale Erziehung hatten. Meine Eltern waren gegen physische Strafen. Schlimmer war es, als wir in großen Kollektiven wohnten, daß es so viele Erwachsene gab, denen gegenüber man sich richtig verhalten mußte. Da fühlt. man sich unsicher, sagt Sylvia.

Als sie 15 war, wollte sie eine Pause machen

- Mamma begann zu weinen. «Du ahnst nicht, wohin du dich hinausbegibst», sagte Pappa. Aber zwei Monate später durfte ich zu Onkel und Tante übersiedeln. Ich sollte an einer Schule beginnen, ich mußte eine neue Sprache lernen und eine neue soziale Intelligenz entwickeln.

Sylvia fand rasch heraus, daß sie nicht zurückwollte. Heute ist sie verheiratet und studiert an der Universität Oslo Chinesisch. Die Eltern wohnen weiterhin in Asien.

- Es brauchte lange Zeit, am Verhältnis zu meinen Eltern zu arbeiten. Ich liebe sie, aber es erscheint mir schwierig, ihre Entscheidungen zu respektieren. Hast du keine Kinder, dann kannst du leben, wie du willst. Hast du aber Kinder, dann mußt du Rücksicht nehmen.

- Viel Feldforschung beruht auf den schmerzlichen Erlebnissen der Aussteiger. Das Bild muß. daher nuanciert werden, sagt Nora Ahlberg, Professorin für Religionswissenschaft und Kulturpsychologie, die derzeit das psychosoziale Zentrum für Flüchtlinge an der Universität Oslo leitet.

- Wenn die Milieus überleben sollen, dann müssen sie die Traditionsvermittlung durch gewisse Restriktionen und Lebensregeln sichern. Wollen wir die Situation der Kinder verstehen, dann müssen wir auch die religiösen Milieus in Beziehung zur Umgebung sehen. Soziale Kontrolle ist notwendig, um als Minderheitsgesellschaft überleben zu können.

WAS KANN MAN TUN, wenn die Religionsfreiheit der Eltern mit den Rechten der Kinder kollidiert?

- Es muß erlaubt sein, Fragen zu stellen. Wir müssen durch die Erwachsenen wirken, nicht durch die Kinder. Dies würde es für sie noch schwieriger machen, sagt Institutslektor Arne Tord Sveinall.

Professor Nora Ahlberg meint, man solle gut überlegen, bevor man Kindern und Jugendlichen einseitig den Rat gibt, auszubrechen.

- Da legen wir eine ziemlich schwere Bürde auf die Schultern der Kinder und Jugendlichen. Hier wie auch anderswo muß man vor allem vermeiden, daß Kinder zu Spielbällen auf den ideologischen Schlachtfeldern der Erwachsenen gemacht werden.

Andrew rät Sektenkindern, selbst zu denken.

- Wir dürfen Sektenkinder nicht aufmuntern oder unter Druck setzen, auszubrechen. Es muß von ihnen selbst kommen.

Dagbladet © 2001