Hjemmet:

- Ich kann mich erinnern, daß ich als Kind immer Angst hatte. Meine Geschwister und ich wuchsen mit Drohungen mit der ewigen Verdammnis auf, wenn wir nicht "den einzigen und richtigen Weg wählten".

Die Sekte stahl meine Kindheit

Ingrid (32) wurde in eine Sekte hineingeboren. Sie wuchs als eines von acht Geschwistern auf und es wurde ihr eingeprägt, das Wichtigste im Leben sei, die Brüderschaft zu lieben. Eigene Bedürfnisse müsse man ausrotten. Nun ist es viele Jahre her, daß sie aus der Sekte ausbrach, aber das war ein schwieriger und schmerzhafter Prozeß.

Unter vier Augen - mit Siri Walen Simensen

Kannst du dir ein Leben vorstellen, in dem du auf keine Weise die Sehnsüchte ausleben kannst, die in dir sind? Ingrid weiß, wie man sich dabei fühlt. Sie wurde dazu erzogen, alle Träume auszuschließen. Das Wort der Mutter und des Vaters waren Gesetz, und das Wort der Gemeinde war das einzige und richtige.

- Meine Kindheit ging darauf hinaus, meine ganze Persönlichkeit zu vernichten. Ich durfte mich nicht um materialistische Dinge wie Kleider, Schmuck, Autos oder Ausbildung kümmern. Ich durfte nicht zornig sein und auch nicht zu froh. Nur wenn ich völlig selbstauslöschend war, entkam ich Schelten und Schlägen, berichtet sie. Sie denkt mit Grauen an die Bestrafungsmethoden, welche die Eltern jedesmal anwendeten, wenn sie mit ihrem Benehmen nicht zufrieden waren.

- Ich bekam Schläge auf den Hintern und mußte sofort um Vergebung bitten, wenn ich etwas tat oder sagte, was nicht mit den Gesetzen und Regeln übereinstimmte, die in der Glaubensgemeinschaft galten. Ich erhielt Bescheid, daß Gott mir vielleicht vergeben würde, wenn ich genug bereute, aber ich sollte das nicht als gegeben betrachten. Würde mir nicht vergeben, so würde ich in der Hölle landen.

In der Stube hing eine große Uhr und daneben eine Rute. Ingrids Alltag bestand aus täglichen Abstrafungen, denn Schläge waren ein Teil des göttlichen Planes. Die Kinder mußten so demütig werden, daß sie vor der Hölle gerettet würden. "Wer die Rute spart, haßt seinen Sohn, doch wer ihn liebt, züchtigt ihn beizeiten", steht in der Bibel. Dieser Satz war das Zentrum der Kindererziehung. Die Leitung der Sekte meinte, Gott bitte die Menschen, Züchtigung anzuwenden, um die Kinder von der Sünde fernzuhalten!

- Aber norwegischem Gesetz zufolge ist es verboten, Kinder zu schlagen.

Ingrid lacht ironisch.

- Glaubst du wirklich, fanatische Christen würden sich norwegischem Gesetz unterordnen? Sie glauben, sie seien Gottes einzige Auserwählte. In ihren Augen sind alle außerhalb der Sekte Sünder. Alle anderen als sie werden in einer ewigen Hölle landen.

Sich selbst zu hassen war die einzige Möglichkeit, zu überleben

Die kleine Ingrid war voll sündiger Träume. Sich selbst zu hassen war die einzige Möglichkeit, zu überleben. In aller Heimlichkeit versuchte sie, sich an einigen der schönen Träume über ein normales Leben unter anderen Kindern festzuhalten.

- Mir ging es schrecklich. Im Alter von 4 Jahren begann ich, in der Nacht aufzuwachen, da ich Durst hatte. Mein Vater meinte, ich müßte von dieser Unsitte loskommen. Wenn ich aufwachte, sperrte er mich in einen dunklen Raum. Ich stand im Dunkeln und schrie und schlug an die Tür. "Ich habe Durst. Mamma und Pappa, ich habe Durst".

Aber sie öffneten nicht. Es endete damit, daß ich völlig erschöpft auf dem Boden einschlief. Wenn sie mir nur statt dessen ein Glas Wasser gegeben hätten! Da hätte ich mich sofort niedergelegt, um zu schlafen.

Die Jugendlichen in der Familie lernten beizeiten, daß man nur zwischen zwei Wegen im Leben wählen könne. Ein Weg sei schmal und einer breit, und sie müßten richtig wählen. Der eine richtige Weg führe zum Land der Ewigkeit, wo Entsagung, Selbstauslöschung und Demut das einzige Seligmachende seien. Der andere Weg sei breit und voll von Sünde und Verführung.

- Ich bekam ständig zu hören, daß ich mich auf dem falschen Weg befände und daß meine Hoffnungen, in den Himmel zu kommen, gleich Null seien. Heute sehe ich, daß ich meinen Träumen dankbar sein kann, denn es gelang mir, aus der Sekte auszubrechen, als ich großjährig wurde. Alle Strafen und Drohungen der Welt, ich würde in der Hölle landen, konnten mich nicht davon abhalten, selbst zu denken.

Ingrid hält an, denkt. Es schmerzt immer noch, daran zu denken, wie intensiv die Eltern versuchten, sie und ihre Geschwister gehirnzuwaschen. Sie erhielten täglich Bescheid, sie würden den Märtyrertod erleiden müssen, wenn es ihnen nicht gelänge, sich auf dem schmalen Weg zu halten. Wem es nicht gelänge, sich das ganze Leben lang darauf zu halten, könnte auch nicht Jesu Braut werden.

- Mein Alltag war voll Angst und Schrecken. Dennoch gelang mir der Versuch, herauszufinden, was das Leben außerhalb der Brüderschaft zu bieten hatte. Hätte ich im Vorhinein gewußt, wie schwierig dieser Prozeß sein würde, dann hätte ich es wahrscheinlich sein lassen. Heute bin ich froh darüber, daß ich nicht ahnte, wie schmerzvoll das Leben sein würde, bevor ich endlich zum Schluß das Glück fand, das ich gesucht hatte, sagt Ingrid leise.

"Träumte, Hosen anzuziehen und das Haar zu schneiden"

In den Jugendjahren war sie so mit Pflichten und Tätigkeiten überlastet, daß sie keine Zeit hatte, Freunde zu haben. Täglich mußte sie nach allen Mahlzeiten abwaschen, und jeden Nachmittag mußte sie mit dem Fahrrad Zeitungen austragen, um zur Gemeinschaft wirtschaftlich beizutragen. 10 Personen waren bei jeder Mahlzeit um den Tisch versammelt. Ingrid haßt es heute, abzuwaschen.

- Das Ergebnis war, daß ich nicht in der Lage war, bei der Arbeit in der Schule mitzukommen. Ich wurde eine Verliererin in der Schule, auch wenn ich mental eigentlich normal ausgerüstet war. Ich war recht und schlecht unkonzentriert, da ich so erschöpft und verwirrt war. Da ich immer mit langem Rock und den Haaren in einem Pferdeschwanz gehen mußte, konnte ich auch nicht an der Gemeinschaft der anderen Mädchen teilnehmen. Ich träumte davon, Hosen und Pullover anzuziehen und das Haar zu einer tollen Frisur zu formen. Die Eltern wollten mir nie etwas davon erlauben. Als ich einmal als kleines Mädchen mein Haar selbst ein wenig schnitt, wurde ich grün und blau geschlagen. Mädchen müssen langes Haar haben, mußt du wissen. Das hat Gott bestimmt!

Als Ingrid 18 wurde und in die Volkshochschule übertrat, wollte sie nicht mehr. Sie "flippte aus" und wurde von der Schule verwiesen.

- Ich feierte Feste und flirtete völlig wahllos mit Burschen. Meine Eltern heulten und schrien von der Hölle, aber ich kümmerte mich nicht darum. Aber obwohl ich mich gegen das System im Aufruhr befand, war ich niemals sicher, ob ich das Richtige tat. Viele Jahre Gehirnwäsche bewirkten, daß ich zeitweise zitternd dalag vor Angst, was mir, der großen Sünderin, nun zustoßen werde.

Ingrid berichtet, es sei zu diesem Zeitpunkt für sie undenkbar gewesen, auf eine andere Weise Christ zu sein als auf die, welche in der Sekte praktiziert wurde.

- Ich glaubte, es gab nur ein Entweder - Oder und litt darunter, da ich trotz allem an Gott glaubte. Eines Tages traf ich eine Dame, die mein Leben völlig veränderte. Damals lebte ich in Oslo von der Sozialhilfe und war sehr niedergeschlagen. "Du kannst an Gott glauben, ohne fanatisch zu sein. Gott kümmert sich um alle, die ihn suchen", sagte sie zu mir. Von diesem Tag an fühlte ich eine Ruhe, die ich nie zuvor gefühlt hatte. Ich fand meinen Gott, der in mein Leben paßt.

Ingrid hat heute Mitleid mit ihren Eltern und Geschwistern, die in einer Sekte voller Wahnvorstellungen leben. Sie meint, dies sei ein Produkt der Gehirnwäsche früherer Generationen.

- Aber nichts entschuldigt die Übergriffe und die Vernachlässigung der Fürsorge, die im Namen Gottes geschehen. In ihrem tiefsten Inneren müssen sie wohl wissen, welchen Kummer sie ihren Kindern bereiten, meint Ingrid. Sie hat mit ihrer Familie gebrochen und wird mit ihnen keinen Kontakt mehr pflegen, ehe die Eltern begreifen, daß sie ihren Kindern großes Unrecht angetan haben. Das wird wahrscheinlich nie eintreten. Denn die halten sich selbst für unfehlbar.

"Meine Geschwister sind ebenso fanatisch wie unsere Eltern"

Ingrid ist das einzige der Kinder, das mit der Sekte gebrochen hat, in die sie hineingeboren wurden. Die Geschwister sind ebenso fanatisch geworden wie die Eltern.

- Aber einer meiner Brüder lebt ein Doppelleben. Er verschwindet zeitweise und kostet das Leben voll aus. Dann kommt er zurück und tut so, als ob es dies sei, was er wolle. Weil er ein Mann ist, wird es in der Glaubensgemeinschaft zugelassen, daß er kommt und geht. Ich vermisse meine Geschwister, aber ich habe eingesehen, daß wir keinen Kontakt miteinander haben können, solange sie Mitglieder sind und ich nicht. Für meine Kinder ist das traurig. Die könnten eine Menge Tanten und Onkel haben, noch dazu Großmutter und Großvater.

Ingrid ist Mutter zweier Kinder, und sie hat einen Gott gefunden, der voll Liebe und Fürsorge ist, einen, der sich dafür interessiert, was sie denkt und glaubt. Für sie ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die Kinder mit Verständnis, Liebe und Grenzen aufwachsen, ohne daß die Eltern zu physischer Abstrafung Zuflucht nehmen müssen.

- Ich habe in meinem Erwachsenenleben unter vielen schmerzlichen Gefühlen gelitten. Das Seltsame ist, daß ich mich dabei ertappe, mich nach der Zeit zurückzusehnen, die ich hasse. Heute muß ich selbst Entscheidungen treffen und den Weg wählen, den ich gehen will. Als Kind wurde ich gesteuert. Ich wußte immer, was ich hatte und wo ich sollte. Das Absurde ist, daß man sich dabei sicher fühlt. Gerade das Gefühl der Sicherheit ist die Ursache, daß so wenige Kinder aus der Sekte ausbrechen, nachdem sie darin aufgewachsen sind. Wenn dir Gottes strenge Worte eingeprägt wurden, gleitest du in eine Art von Gleichgültigkeit hinein, in der Sicherheit das Wichtigste ist. Du hast alle natürlichen Bedürfnisse ausgelöscht.

Ingrid läßt die Worte im Raum hängen. Es ist einige Sekunden lang still.

- Ich befinde mich noch in einem Prozeß, in dem ich fühle, daß ich mir alles zurückerobern muß, was mir genommen wurde. Es war ein langer Weg, zu lernen, sich selbst zu lieben und aufzuhören, wegen allem, was man denkt und tut, Schuld zu fühlen. Aber ich glaube an ein Leben in Freiheit. Das Leben ist voller Herausforderungen, sagt sie. Die sympathische Dame verheimlicht nicht, daß sie als Ergebnis ihrer Kindheit psychische Probleme hatte. Aber dank eines prachtvollen Ehemannes und netter Kinder fühlt sie, daß sie auf dem Weg ist, ein vollständiger und ausgeglichener Mensch zu werden.

- Ich hoffe, daß meine Geschichte dazu beitragen kann, daß andere Menschen, die in einer Sekte sind oder einer solchen beitreten wollen, mit ihrem Leben reinen Tisch machen. Nicht an etwas teilnehmen, von dem du in deinem Innersten fühlst, daß es falsch ist. Denk an deine Kinder, sagt Ingrid zum Abschluß.