Dagfinn Ulland: Religiöses Sektenwesen und mentale Leiden

In diesem Artikel will ich den Blick auf das Sektenwesen in religiösen Bewegungen richten. Viele ehemalige Sektenmitglieder berichten von großen psychischen und geistigen Problemen nach dem Bruch mit der Sekte. Sie bezeichnen sich als "Opfer" und als "Aussteiger" und schildern ihre Sektenerfahrungen auf eine Weise, welche Anlaß gibt zu fragen:

- Erfolgt in religiösen Bewegungen eine Indoktrination, welche die persönliche Integrität verletzt ?

- Hat es in diesem Zusammenhang Sinn, über schädliche Einflüsse und eine neue Type von mentaler Krankheit zu sprechen ?

Diese Problemstellung hat Therapeuten und Seelsorger während mehrerer Jahre u.a. in den USA und in Europa beschäftigt. Bisher wurden darüber zwei große Konferenzen in Barcelona veranstaltet. ("Cults and Society").

Vorläufig wurde diese Problemstellung in norwegischen und nordischen Fachzeitschriften eher selten behandelt.

Mein Beitrag ist ein Versuch, sich in ein schwieriges Terrain zu begeben, wo die Grenzen zwischen Seelsorge und Therapie fließend sind. Die Absicht ist dabei, mögliche Erklärungsmodelle zum Verständnis und zur Hilfe bei der Begegnung mit Menschen mit Sektenerfahrung zu finden

Zunächst will ich von einem vielfätigen Erklärungsmodell ausgehen, wobei ich sowohl die psychischen als auch die religiös-geistigen Symptome ernst nehme.

Der Artikel ist in erster Linie eine Darstellung einer derzeit stattfindenden Diskussion und ein Kommentar hierzu.

Studien des Sektenphänomenes

Bei Studien des Sektenphänomenes muß man sich vielen verschiedenen Aspekten stellen.

Die Kirche-Sekten-Typologie des Soziologen Max Weber und des Theologen Ernst Troeltsch war seinerzeit eine bahnbrechende Arbeit (Weber, 1963 und Troeltsch, 1981).

Der Soziologe Milton Yinger weitete den Sektenbegriff aus und schloß sogenannte etablierte Sekten mit ein. (Yinger, 1970).

Ferner hat der Soziologe Bryon Wilson in seinem Buch Religiøsa Sekter [Religiöse Sekten] zwischen verschiedenen Sektentypen differenziert, z.B. der revolutionären Sekte, der Bekehrungssekte und der manipulierenden Sekte. (Wilson, 1970).

Innerhalb der soziologischen Forschung war u.a. Roy Wallis damit beschäftigt, bestimmte Kennzeichen für eine Sekte aufzustellen. (Wallis, 1970).

Wenn auch solche soziologischen Betrachtungsweisen bei Sektenstudien interessant und notwendig sein können, so möchte ich doch in diesem Zusammenhang mich in erster Linie bei den psychologischen und religiösen Seiten des Sektenphänomenes aufhalten.

Ich denke da zu allererst an jene Aspekte des Sektenphänomenes, welche auf die Sektenmitglieder schädlich wirken können. Solche Aspekte der Sekten möchte ich in diesem Zusammenhang Sektierertum nennen.

Wir haben nach und nach eine Reihe Beschreibungen von solchen Erfahrungen erhalten. (Swartling 1993; Wilting 1992). Ehemalige Sektenmitglieder weisen auf einige typische Züge bei den Sekten hin, welche relativ große psychosoziale und geistige Probleme hervorbringen. Ich möchte mich im folgenden bei einigen dieser Aspekte aufhalten und dabei mögliche Erklärungsmodelle für den destruktiven Einfluß darstellen.

Rekrutierungsmethoden

- Bei der Rekrutierung zur Sekte werden irreführende Informationen benützt. Verlockende Beschreibungen der Sekte verbergen heimliche Ziele. Dies kann damit begründet werden, daß die zu Rekrutierenden nicht genug erleuchtet sind, um alles auf einmal zu erfahren. Dies geschieht z.B. in der Unification Church. In dieser ersten Rekrutierungsphase wird oft ein schmeichelndes "love bombing" benützt, das Interesse und Bindung an die Sekte erzeugt. Die Werbung neuer Mitglieder erfolgt oft mit manipulierenden Techniken und Gruppendruck. Es handelt sich um die Kontrolle der Gedanken, der Gefühle, des Verhaltens und der Information.

Der amerikanische Sozialpsychologe Robert B. Cialdini behauptet in seinem Buch Influence - The New Psychology of Modern Persuasion, daß bei der Rekrutierung durch Sekten oft eine Anzahl alltäglicher Überredungstechniken mißbraucht werden. Menschen werden mit einfachen psychologischen Kniffen manipuliert. (Cialdini, 1984). Als Beispiel kann man das erwähnen, was Cialdini "reciprocity" nennt: Von Kindheit an sind wir dazu erzogen, dankbar zu sein und uns zu revanchieren, wenn uns jemand etwas schenkt. Cialdini führt Beispiele an, wie neue Mitglieder zu Sekten dadurch rekrutiert werden, daß man Geschenke wie Bücher oder Blumen austeilt. Jemand spendiert vielleicht ein Mittagessen, um nachher zu einer Information über die Sekte einzuladen. Viele werden große Probleme damit haben, solche Angebote auszuschlagen. Sie werden sich verpflichtet fühlen, mitzumachen.

Der Psychologe Steven Hassan gibt in seinem Buch Combatting Cult Mind Control eine systematische Darstellung der Theorie der Mind Control. (Hassan, 1990). Die Essenz dieser Theorie ist die, daß der Mensch durch die Kontrolle der Gedanken, des Gefühls, des Verhaltens und der Information in Abhängigkeit verfällt und seine Autonomie geschwächt wird. Hassan zufolge geschieht dies nicht durch äußeren, physischen Zwang, sondern durch "Freunde". Das macht den zu Werbenden weniger widerstandsfähig. Ohne es zu wissen, arbeitet man mit seinen Kontrolloren zusammen. In der ersten Rekrutierungsphase erfolgt ein schmeichelndes "love bombing", welches Interesse und Bindung an die Sekte erzeugt.

Mir erscheinen diese beiden Gesichtspunkte relevant. Viele ehemalige Sektenmitglieder, mit denen ich gesprochen habe, beschreiben im Nachhinein diese erste Phase als etwas Beson-deres.

Das, was sie da als geschätzt zu werden erlebten, wird im Nachhinein als bewußte Schmeichelei und Werbestrategie von seiten der Sekte gesehen. Nach dem Bruch mit der Sekte machen sie sich selbst Vorwürfe, daß sie sich täuschen ließen. Sie berichten auch über ein allgemeines Mißtrauen zu anderen Menschen. Sie fürchten sich davor, neue Bindungen einzugehen, die neuen Betrug mit sich bringen könnten.

Autoritäre Führerschaft

Eine bekannte Erscheinung in religiösen Milieus ist, daß die Führer ihre Stellung mißbrauchen und selbstherrlich und autoritär auftreten. Eine nützliche und kritische Beschreibung eines solchen Führungsstiles lieferte der Exerzitienleiter Edin Løvås im Buch Maktmennesket i menigheten [Der Machtmensch in der Gemeinde] (Løvås, 1987).

Meiner Meinung nach hat ein autoritärer Führungsstil in einer Sekte einen besonders guten Nährboden. Der Hintergrund kann oft der Wunsch des Leiters sein, mit einem etablierten Milieu zu brechen, weil dieses keinen Blick und keinen Raum für die neuen Ideen und Visionen des Leiters läßt. Nun steht der Sektenführer da als eine Person mit großer Autorität. Die Machtposition des Sektenführers kann so mit einer Leitungsideologie kombiniert werden, die wenig Platz für eine demokratische Führungsform läßt. Damit ist die Grundlage für eine große Machtentfaltung von seiten der Leitung gegeben.

Die Konsequenzen auf persönlicher Ebene können für die Sektenmitglieder sehr belastend sein.

Der Leiter kann autoritär auftreten und Gehorsam und Unterwerfung fordern. Der Leiter kann behaupten, besondere Kenntnisse und göttliche Autorität zu haben.

Durch seine Stellung als Seelsorger können auch vertrauliche Mitteilungen ein Machtmittel werden, daß leicht gegen die Sektenmitglieder mißbraucht werden kann. Das hat sich besonders beim Ausschluß aus der Sekte gezeigt.

Leon Festinger begründete in seinem Buch When Prophecy Fails die Theorie von der kognitiven Dissonanz. (Festinger, 1956).

Er befaßt sich mit der Beziehung zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten. Wenn das Verhalten verändert wird, kann eine Dissonanz in Bezug auf Gedanken und Gefühle entstehen. Ein Sektenmitglied ist oft bereit, seine Gedanken und Gefühle zu ändern, um die Dissonanz zu reduzieren.

Wenn z.B. ein vorausgesagtes Ereignis nicht eintrifft, kann ein Sektenführer das Geschehene durch Rationalisierung erklären. Eine Überzeugung wird dadurch im Verhältnis zur Situation, bevor die Dissonanz entstand, verstärkt. Ein Sektenmitglied wird dadurch von seinem Standpunkt noch mehr überzeugt. Die Sektenmitglieder werden noch stärker an den Leiter gebunden und die Loyalität auf Großgruppenebene wird verstärkt.

Eine andere relevante Theorie, welche von der Freud'schen Tradition gestützt wird, wurde von Forschern wie R.B. Ullman und D.W. Abse im Buch The Group Psychology of Mass Media begründet. (Ullman & Abse, 1983). Hier beschreiben sie, wie eine starke Identifikation zwischen Leiter und Gruppenmitgliedern ein intensives Ergebenheits- und Abhängigkeitsverhältnis bewirken kann. Für den Einzelnen kann das bedeuten, daß er gefühls- und verhaltensmäßig in ein infantiles Stadium zurückfällt.

Kontrolle von Milieu, Verhalten und Information

Ein dritter Zug einer Sekte, die möglicherweise destruktiv ist, ist die Kontrolle von Milieu, Verhalten und Information.

Ehemalige Sektenmitglieder berichten oft über hektische Aktivität in der Sekte, wenig Zeit zum Ausruhen und vielfach schlechte Ernährung.

In einem Teil der Fälle gibt es strenge Kontrolle von Information wie z.B. der Zugang zu Büchern oder zu Fernsehen. Wohnen Sektenmitglieder in einem Wohnkollektiv, sind solche Beschränkungen relativ leicht durchzuführen. Für einzelne bedeutet die Sektenmitgliedschaft einen Bruch mit Verwandten und Freunden. Die Begründung dafür kann z.B. sein, daß man nun einer neuen Familie angehört und neue "Eltern" bekommt.

Viele berichten, daß sie aufgehört haben, zur Schule zu gehen, daß sie ihre Arbeit aufgegeben, mit sportlicher Betätigung aufgehört haben usw., um ihr Leben dem "Herrn" zu weihen.

Auf diese Weise erhält die Sekte übergeordnete Priorität gegenüber der Familie, den Freunden, der Schule und der Arbeit. Das Leben wird zur Gänze reguliert und kontrolliert.

Ehemalige Sektenmitglieder beschreiben, wie sie nach dem Bruch große Probleme hatten, eigene Entschlüsse zu fassen. Sie sind gewohnt, daß andere für sie die Entscheidungen treffen. Es wurde ihnen gesagt, daß kritische Beurteilung ein Übel ist.

Das Zusammentreffen mit der Wirklichkeit außerhalb der Sekte wird brutal. Nicht zuletzt trifft dies zu, wenn man innerhalb der Sekte eine "Schwarz-Weiß"-Ideologie hat , in der die Gesellschaft außerhalb nahezu als dämonisch aufgefaßt wird.

Meiner Einschätzung zufolge ist dies eine Beeinflussung mit bedeutenden sozialen und psychologischen Schadenswirkungen.

Ehemalige Sektenmitglieder haben später große Probleme damit, Kontakte mit z.B. Verwandten und Freunden wieder herzustellen.

Gedankenkontrolle

Ein ehemaliges Sektenmitglied berichtete folgendes:

"Nach einer Weile fragte ich mich, ob nicht etwas falsch sei. Sie machten und sagten so viel Seltsames in der Sekte. Ich sprach mit einem der Sektenleiter über meine Verwunderung. Er wurde rasend und gab mir eine klare Warnung. Nach diesem Vorfall wagte ich nicht mehr, jemanden zu fragen. Ich behielt die Kritik für mich. Ich bekam ja den Eindruck, daß ich es war, mit dem etwas nicht stimmte. Was mich aber schockierte, war, daß in einer Versammlung über dieses Gespräch geredet wurde, zwar etwas verschleiert, aber dennoch. Ich fühlte, daß die Augen aller auf mich gerichtet waren.

Dies ist ein Ausdruck dafür, daß der Betreffende von einem Kritikdämon besessen ist. Laßt uns damit aufhören, sagte der Prediger. Dann folgte eine Sitzung mit Gesang, Zungenreden und Gebet."

Der Psychologe Steven Hassan erwähnt Gedankenkontrolle als ein Element dessen, was er Mind Control nennt. (Hassan, 1990).

Diese geht darauf aus, Sektenmitglieder zu indoktrinieren, die Lehre und Sprache der Sekte anzunehmen. Die Sekte hat auf alles eine Antwort. Die Mitglieder brauchen nicht selbst zu denken. Kritik ist böse und stammt vom Bösen. Man kann sie als Werk des Teufels betrachten, oder daß man selbst etwas zu verbergen hat, was das Tageslicht nicht verträgt.

Ein effektives Mittel zur Kontrolle der Gedanken sind sogenannte "Thought-Stopping Rituals". Diese Rituale können automatisch gestartet werden und nehmen die Form von Meditationsübungen, Singen, Selbsthypnose, Auditieren oder Zungenreden an.

Mit wenig Raum für kritische Reflexion muß das komplizierte Leben entweder verdrängt oder wegerklärt werden.

Lifton spricht in diesem Zusammenhang von mystischer Manipulation, heiliger Wissenschaft und einer beladenen Sprache. (Lifton, 1954).

- Mystische Manipulation bedeutet Lifton zufolge, in einen geheimen göttlichen Plan einbezogen zu sein, in den nur wenige eingeweiht sind. Auf diese Weise wird eine mystische Atmosphäre rund um das manipulierende Milieu erzeugt. In solcher Umgebung werden Kritik und Zweifel nicht zugelassen.

- Heilige Wissenschaft nennt er die Tendenz, rund um die Dogmen eine Atmosphäre von Heiligkeit und Mysterium zu erzeugen. Man hat die grundlegende Annahme, daß es eine absolute Wahrheit geben muß, die man nicht kritisieren darf.

- Die beladene Sprache verwendet man, um die totale Wirklichkeit mit relativ stereotypen und gefühlsbeladenen Klischees zu beschreiben. Auf diese Weise können unsichere und oft verwirrte Menschen ein Instrument zum Aufräumen im eigenen Chaos bekommen. Gleichzeitig kann die Sprache ein mächtiges Hilfsmittel für die Leiter sein, die Sektenmitglieder zu kontrollieren.

Ehemalige Sektenmitglieder beziehen sich oft auf solche Erfahrungen, wenn sie ihren ersten Schritt heraus aus der Sekte beschreiben sollen. Sie mögen lange mit dem Gefühl herumgegangen sein, daß etwas falsch sei, aber sie hatten sich die längste Zeit geweigert, Einwände vorzubringen. Als sie nun endlich wagten, Kritik vorzubringen, erlebten sie diese Kontrolle als sehr unangenehm. Dies führte auch dazu, daß sie zu einem späteren Zeitpunkt im Leben nach dem Bruch große Probleme damit hatten, Zweifel und Kritik vorzubringen.

Emotionale Kontrolle

"Er wußte alles über mich. Ich hatte im Detail über mein Leben berichtet. Ich glaubte, dies sei notwendig, um zum Grund zu kommen und frei zu werden.

Nun fühlte es sich wie ein quälender Alptraum an. Ich vermochte mich nicht mehr dem Leiter anzuvertrauen. Ich fühlte mich nicht frei. Er hatte die Kontrolle. Ich hatte meine Seele verkauft. Er hatte die Kontrolle über mein Leben. Ich hatte alle meine komplizierten Gefühle preisgegeben. Ich hatte schreckliche Angst, er würde das verwenden, was er über mich wußte."

Robert Lifton stellt zwei charakteristische Züge von totalitären Gruppen fest, die er Forderung nach Reinheit und Forderung nach dem Bekenntnis nennt.

- Die Forderung nach Reinheit bedeutet, die Normen der Gruppe bezüglich Gedanken, Gefühle und Verhalten gutzuheißen und sich darin einzuordnen. Diese Reinheitsideologie fungiert wie eine kontinuierliche Erinnerung und Erwartung gegenüber den Sektenmitgliedern. Ein Bruch der Normen und eine Abweichung vom "Normalen" hat Bestrafung zur Folge.

- Die Mitglieder können jedoch ihre "Sünden" vor den Leitern bekennen. Das Bekenntnis beinhaltet eine Art Reinigung. Durch das Geständnis der Schuld wird man wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Dieser Prozeß kann aber die persönliche Integrität verletzen. Die Leiter erhalten Informationen von sensitivem Charakter. Die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen werden aufgehoben.

Die Forderungen nach Reinheit und nach dem Bekenntnis werden zu einem inneren und einem äußeren Druck

Die Leiter erhalten Zugang zu intimen Lebenserfahrungen. Das einzelne Sektenmitglied erweist sich als verletzbar und schutzlos.

Die Kontrolle der Gefühle setzt eine Situation voraus, in der Schuld und Furcht erzeugt wurden. Die Furcht kann Furcht vor dem Satan, vor Gott, vor ehemaligen Sektenmitgliedern, vor der Psychiatrie, vor dem Sektenführer und vor anderem sein. Die Kontrolle der Gefühle beinhaltet große Möglichkeiten für Manipulation und Macht. Meiner Meinung nach gibt es eine große Chance dafür, daß diese Kontrolle mißbraucht werden und schädliche Konsequenzen psycho-sozialer Art haben kann. Es ist nicht zuletzt wichtig, darauf in religiösen Milieus zu achten, wo gerade das Bekenntnis als ein Teil des Gesunden und Normalen im religiösen Leben betrachtet wird. Der Zugang zu sensitiver Information über eine Person und der Gebrauch dieser Informationen kann leicht ein Mittel zur Beeinflussung und zum Machtmißbrauch werden, das die persönliche Integrität verletzt.

Prof. Dr. med. Nils Johan Lavik gab in seinem Buch Frelst eller forfört [Erlöst oder verführt] einen aufschlußreichen Kommentar zur Forderung nach Reinheit in der Theorie von Lifton: "Jemand außerhalb einer selbst erhält die Kontrolle über das, was jemand auf dem Schuldkonto des Lebens angesammelt hat, und zwingt ihm seine eigenen Abzahlungsbedingungen auf. Die Allianz mit den Schuldgefühlen eines anderen Menschen ist und war immer der eigentliche Königsweg bei der psychologischen Manipulationstechnik." (Lavik, 1985).

Verhältnis zu materiellen Werten

Als letztes Element, das für ein Sektenmitglied destruktiv sein kann, wird hier das Verhältnis zu den materiellen Werten genannt.

Viele ehemalige Sektenmitglieder, z.B. Moonies, berichten darüber, wie sie beim Verkauf von Blumen, Literatur usw. als ein Bestandteil der Rekrutierung neuer Mitglieder beteiligt waren. Das Geld ging an die Bewegung, während sie es eigentlich als für einen wohltätigen Zweck bestimmt darstellten.

Andere haben für verschiedene Arten von Einführungskursen und Information teuer bezahlt. An bekanntesten sind wohl die teuren Kurse bei den Scientologen. Viele hat das in den wirtschaftlichen Ruin mit hohen Bankdarlehen geführt. Andere wieder berichten über das totale Engagement in religiösen Bewegungen, wo man so viel wie möglich von seinem Eigenen opfern soll, um sich dem Dienst in der Bewegung zu übergeben.

Im Nachhinein kann man darauf hinweisen, daß dies freiwillig geschah, es ist aber eine Tatsache, daß sich viele mit ihrer privaten Ökonomie sowohl während der Mitgliedschaft als auch nach dem Bruch mit einzelnen Sekten sehr schwer tun. Ein anderer kritikwürdiger Umstand in dieser Beziehung ist der, daß oft wenig Einblicksmöglichkeiten in die wirtschaftlichen Dispositionen der Sekte bestehen. Das kann wieder mit der Organisations- und Leitungsstruktur zusammenhängen.

Mehrere Sekten mußten aus diesem Grund ihre wirtschaftliche Situation öffentlich überprüfen lassen.

Indoktrinierung, welche die persönliche Integrität verletzt ?

Das Vorstehende ist ein Versuch, auf die Umstände hinzuweisen, welche die persönliche Integrität von Sektenmitgliedern verletzen kann. Ich habe diesen Versuch unternommen, um den Problembereich und die Fragen nach schädlicher Beeinflussung in religiösen Milieus darzustellen.

Gehen wir einen Schritt weiter, so sind wir mitten in der Diskussion darüber, wie schädlich eine solche Beeinflussung sein kann. Hat es einen Sinn, über "Gehirnwäsche", "Gedanken-kontrolle", "Mind Control" oder manipulierenden "Influence" zu sprechen ?

Die bekannten Untersuchungen von Moonies des Soziologen Eileen Barker ziehen den Schluß, daß nur eine kleine Anzahl länger als zwei bis drei Jahre in der Sekte verbleibt.

Die Sozialisierung neuer Mitglieder wird als allzu schwach bewertet, als daß man von "Gehirnwäsche" sprechen könnte.

Barker steht auch Behauptungen über Manipulation und "Gehirnwäsche" in religiösen Milieus kritisch gegenüber. (Barker, 1984).

Der Religionshistoriker Mikael Rothstein schreibt in einem Artikel in der Zeitschrift

Religion og livsyn [Religion und Lebensanschauung] über die Initiation der Gehirnwäsche. (Rothstein, 1992).

Er meint, daß man auch in der Frage der Rekrutierungsstrategie und -technik es mit Mechanismen zu tun hat, welche aus der Religionsgeschichte bekannt sind. Er weist die Hypothese der Gehirnwäsche zurück und nennt Gehirnwäsche eine Karikatur des wissenschaftlichen Konversionsbegriffes. Der Konversionsprozeß sei etwas zu Erwartendes und Natürliches. Gleichzeitig erwähnt er, daß dieser schmerzhaft und schwierig sein kann. Er möchte nicht die menschlichen Leiden, welche ein Engagement in einer neuen Religion mit sich bringt, romantisieren oder ignorieren. Er weist auch auf Übergriffe und Kriminalität in mehreren neuen Religionen hin, behauptet aber, man müsse die Häufigkeit von Übergriffen und die Anzahl der kriminellen Zustände eher als gering einschätzen. (Rothstein, 1992).

Einzelne Psychiater stellen sich auf die Seite der Sekten als Sachverständige in Gerichtsverfahren und weisen Beschuldigungen von "Gehirnwäsche" und Mind Control zurück. (Coleman, 1984).

Sie beschuldigen auch die sogenannten Mind-Control-Theoretiker, daß sie ihre Hypothesen auf einseitigen Untersuchungsmethoden aufbauen. Statt Sektenmitglieder oder Personen zu interviewen, welche die Sekte freiwillig verlassen haben, begründen sie ihre Informationen auf der Erfahrung von Personen, welche gezwungen wurden, die Sekte zu verlassen. (Coleman, 1984).

Es wird auch auf umfangreiche seriöse Untersuchungen hingewiesen, die offenbar keine beweisbaren Anzeichen von schädlichem Einfluß finden konnten. (Galanter, 1979 und Hill, 1980).

Der extremste Standpunkt wird vielleicht von denen eingenommen, die behaupten, der Beitritt zu einer Sekte kann als notwendiges Losreißen von den Eltern verstanden werden. Die Sektenmitgliedschaft sei ein gesunder Seitensprung in der psychologischen Entwicklung. (Levine, 1984).

Andere wollen, ausgehend von einem mehr sozialpsychologischen und familientherapeutischen Standpunkt, sich positiv zu Theorien und Erklärungsmodellen stellen, welche mit gewissen schädlichen Einflüssen während der Sektenmitgliedschaft rechnen. (Martin, 1993).

Dies sind Beispiele dafür, wie man aus verschiedenen theoretischen Richtungen zu verschiedenen Schlußfolgerungen bezüglich schädlicher Einwirkungen durch Sektenmitgliedschaft kommen kann.

Hier spielen wohl auch noch andere Faktoren eine Rolle. In einem Teil der Fälle wurden große Gerichtsprozesse geführt, in denen Psychiater und Juristen auf beiden Seiten engagiert waren. Ich nehme an, daß dabei auch fachliche Gegensätze und wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielten.

Ein anderer Faktor, der zu Tragen kommt, ist von eher methodische Art. Ich glaube, daß Psychologen, Psychiater und Seelsorger oft ihre Informationen von Patienten und Vertrauensleuten beziehen, welche nach dem Bruch mit der Sekte Hilfsorganisationen aufsuchen.

Die Frage bezieht sich auf die Vertrauenswürdigkeit der Information, die man auf diese Weise erhält. Die Geschichte von Aussteigern sollte meiner Ansicht nach zuverlässig sein, mit dem nötigen Vorbehalt z.B. gegenüber der Möglichkeit von Übertreibungen und Anschwärzungen der Sekte.

Ein Forscher, der die Dinge von der Innenseite der Sekte her sieht, muß damit rechnen, daß ihm Information vorenthalten wird. Sind die Sektenmitglieder einem manipulierenden Einfluß ausgesetzt, dann muß man auch damit rechnen, daß diese Mechanismen die Sektenmitglieder daran hindern, eine ganzheitliche Beschreibung der Mitgliedschaft zu liefern.

Nach meiner Einschätzung muß ich dennoch davon ausgehen, daß zwischen religiösem Sektenwesen und mentalen Leiden ein Zusammenhang besteht.

Ich meine, es ist schwierig, von den Berichten über Übergriffe und schädliche Beeinflussung abzusehen. Auf die eine oder die andere Weise muß man damit weiterkommen zu erkennen, was die Ursache dafür sein kann, daß ein Mensch so schwere Belastungen nach einer Sektenmitgliedschaft erlebt.

Die Theorie von der Gehirnwäsche hat meiner Einschätzung nach in diesem Zusammenhang klare Schwächen. Sie hat einen politischen und historischen Hintergrund, der sich nicht ohne weiteres auf religiöse Sekten übertragen läßt. Außerdem wird die Theorie der Gehirnwäsche gerne bei Umständen benützt, wo physischer Zwang angewendet wurde. Dieser ist in Sektenmilieus im großen und ganzen unbekannt. Dennoch kann man sich vorstellen, daß die Theorie Elemente beinhaltet, welche die schädlichen Seiten der Sektenmitgliedschaft erklären können. Diese Elemente finden wir in der Theorie der Mind Control wieder (Hassan, 1990). Zusammen mit eher sozial-psychologischen Theorien wird man damit eine Beurteilungsgrundlage mit größerer Breite zur Verfügung haben, um mögliche Erklärungen für die schädlichen Wirkungen der Sektenmitgliedschaft zu geben.

Eine neue Type mentaler Leiden ?

Zu Ende der Sechzigerjahre begannen die Sekten in den USA aufzublühen. Tausende Jugendlicher schlossen sich eine Zeitlang diesen Gruppen an. Nach und nach wurden es viele, die mit der Sekte brachen und sich dem sozialen Leben wieder anzupassen versuchten.

Bei eine Anzahl dieser Jugendlichen traten nun etliche Probleme auf, die man früher nicht in diesem hohen Maß beobachtet hatte. Viele hatten psychosoziale Probleme, von denen man annahm, daß sie mit der Sekte zusammenhingen.

Von psychiatrischer Seite gab es mehrere Berichte über verschiedene Symptome und Zeichen von etwas, das sich auf Erfahrungen aus einer Sektenmitgliedschaft bezog.

Im Kielwasser davon und auf dem Hintergrund der Diskussion über schädlichen Einfluß in Sektenmilieus kam nun ein Gespräch über eine neue Art von mentalen Leiden als Folge von Sektenmitgliedschaft und /oder vom Bruch mit Sekten zustande.

Der Professor der Rechtswissenschaft Richard Delgado erwähnt in seinem Aufsatz Religious Totalism, 1977, etwas, das er "Cult Indoctrine Syndrome" nennt. (Delgado, 1977). Er meint, daß Sektenmitgliedschaft einzelne Menschen zum Opfer einer traumatischen Neurose gemacht hat.

Die Psychologen Flo Conway und Jim Siegelman stellten in einem Artikel in Science Digest, Jänner 1982, die Frage: "Haben die Kulte eine neue mentale Krankheit geschaffen ?" Sie behaupten, es fänden sich keine Begriffe in der Medizin oder im mentalen Gesundheitswesen, welche diese neue Type von Krankheit beschrieben, die Sektenmitglieder befällt. (Conway & Siegelman, 1982). In ihrem Buch aus dem Jahre 1978, Snapping: America's Epidemie of Sudden Personality Changes, führten die Verfasser den Begriff "Information Disease" ein. (Conway & Siegelman, 1978). Dieser Begriff bedeutet eine Störung, welche u.a. die Konzentrationsfähigkeit betrifft und die durch Manipulation mit Information verursacht wird.

Ehemalige Sektenmitglieder beschrieben für sie große Störungen im Gedanken- und Gefühlsleben, die monate- und jahrelang dauerten, nachdem sie die Sekte verlassen hatten.

Die Untersuchung enthüllte Störungen in Bezug auf das Wahrnehmungsvermögen, das Gedächtnis und die Fähigkeit zu anderen Informationsprozessen.

Vierzig Prozent erzählten von Alpträumen. Über dreißig Prozent berichteten über mangelnde Fähigkeit, mentale Aktivitäten wie Singen, Meditation oder Zungenreden abzubrechen. Ein Teil sprach von Gedächtnisverlust und einige von Halluzinationen bis zu acht Jahre nach dem Bruch mit der Sekte (Conway & Siegelman, 1982).

Trotz der Kritik, auf die sie u.a. von seiten des Psychiaters Lee Coleman wegen der Methoden der Untersuchung stießen (Coleman, 1984), wurde meiner Meinung nach eine grundlegende Problematik aufgeworfen, die man nicht vom Tisch fegen kann, nur indem man Methodenkritik übt.

Es sollte sich auch zeigen, daß mehrere Psychologen und Psychiater diese Gedanken in den darauffolgenden Jahren weiter verfolgten. Eine der bekanntesten amerikanischen Forscherinnen, die sich in dieser Problematik engagierte, ist die Psychologin Margaret Singer. Ihre bahnbrechende Arbeit wird u.a. in der Jännernummer 1979 der Zeitschrift Psychology Today vorgestellt. Hier beschreibt sie verschiedene Reaktionen, welche die Mitgliedschaft in autoritären Gruppen oder Sekten herbeiführen kann. (Singer, 1979).

- Depression. Ehemalige Sektenmitglieder haben mit einer Reihe von Einbußen zu kämpfen. Sie bereuen die Sektenmitgliedschaft und sehen ein, daß sie einige ihrer besten Jahre verloren haben. Während der Sektenmitgliedschaft war die Zeit mit Aktivitäten angefüllt. Nun erleben sie das Dasein als leer und sinnlos.

- Einsamkeit. Viele Freunde aus der Sekte bleiben plötzlich weg und man hat Probleme, neue Freunde zu finden. Die vielen Vertrauensbrüche haben dazu geführt, daß man Schwierigkeiten hat, anderen zu vertrauen. Die Furcht, daß man von neuem enttäuscht wird, hindert einen daran, neue Kontakte zu knüpfen.

- Sexuelle Probleme. Während der Sektenmitgliedschaft wurde man oft aufgefordert, seine biologischen Triebe zu unterdrücken. Nach dem Bruch gibt es viele, die das Versäumte nachholen. Sie leben ein ausschweifendes Leben mit darauffolgenden Schuld- und Schamgefühlen. Außerdem bekommen viele Probleme mit einem dauerhaften und verpflichtenden Zusammenleben.

- "Floating". Viele erfahren, besonders in der ersten Zeit nach dem Bruch, daß sie geneigt sind, in das Normensystem und in das Wirklichkeitsverständnis der Sekte zurückzugleiten. Eine solche schwebende mentale Aktivität kann dadurch getriggert werden, daß man Situationen hört oder erlebt, welche an Sektenerlebnisse erinnern. Plötzlich kann man in der Sprechweise und im Gedankengang der Sekte drinnen sein und kann sich fragen: Bin ich wirklich auf dem rechten Weg ? Was ist, wenn ich Gott und sein Werk verrate ?

- Konzentrationsschwierigkeiten. Von ihren vielen Gruppengesprächen mit ehemaligen Sektenmitgliedern berichtet Singer, wie mehrere große Konzentrationsschwierigkeiten hatten.

Sie haben oft Probleme damit, in Bezug auf praktische Bedürfnisse konkret zu sein.

- Unkritische Passivität. Viele ehemalige Sektenmitglieder sind nicht in der Lage, kritisch zu denken. Sie empfinden es als das Einfachste, zuzuhören, zu glauben und gehorsam zu sein.

- Angst vor der Sekte. Eine Sekte zu verlassen hat oft gewisse Drohungen zur Folge. Man fürchtet sich davor, vom Leiter aufgesucht zu werden. Einige erleben, daß man ihnen mit Krankheiten und Unfällen droht, wenn sie nicht zur Sekte zurückkehren. Das bewirkt einen starken psychischen Druck.

- Der "Aquarium-Effekt". Das dauernde Gefühl, von der Familie und den Freunden überwacht und gesehen zu werden, kann für viele aufreibend sein. Es führt auch dazu, daß man übertrieben mißtrauisch werden kann.

- Das Problem, zu erklären und verstanden zu werden. Es ist nicht leicht zu erklären, warum man einer Sekte beigetreten ist. Auch der Einfluß, dem man ausgesetzt war, ist schwierig zu erklären. Aber das Schwierigste ist es vielleicht, zu erklären, warum man nicht früher mit der Sekte gebrochen hat.

- Schuldgefühle. Ehemaligen Sektenmitgliedern zufolge fühlen diese, daß sie an betrügerischen Aktivitäten teilgenommen haben. Das betrifft vor allem das Geldsammeln und das Rekrutieren. Viele fühlen sich schuldig für das, was sie getan oder gesagt haben.

Diese Liste kann als eine Art Symptombeschreibung dienen und eine große Hilfe sein, wenn wir uns ein Bild davon machen wollen, welche Art von Erfahrungen Leute aus dem Sektenmilieu mit sich bringen. Die Gefahr der Verallgemeinerung besteht. Nicht alle reagieren im gleichen Milieu auf gleiche Art. Meiner Meinung nach ist daher bezüglich einer solchen Symptomliste eine gewisse Nüchternheit notwendig. Zugleich gibt uns diese aber eine Beschreibung der schädlichen Auswirkungen, welche religiöses Sektierertum dem Einzelnen zufügen kann.

In einem Artikel in Psychiatric Annals, April 1990, schreibt der Psychologe Michael D. Langone u.a.: "Oft sind Familien wegen den Sektenengagements eines Mitgliedes so verstört, daß sie psychologische und psychiatrische Behandlung benötigen." (Langone, 1990).

Sektenmilieus können sehr manipulierend sein und Einzelpersonen in Familien z.B. finanziell ausnützen. Dies kann große psychische Belastungen hervorrufen, die ansonsten die Familie nicht getroffen hätten.

Langone benützt Bezeichnungen wie "atypical dissociative disorders" und manchmal "post-traumatic stress disorders", und sektenbezogene Psychopathologie zu beschreiben. Er erwähnt auch, daß einzelne Familien die Sekte dazu benützen, um Familienprobleme mit anderen Ursachen zu verschleiern. (Langone, 1988).

Dies ist ein kleiner Ausblick auf die derzeitige Diskussion über ein neues mentales Leiden im Kielwasser von Sekteneinfluß. Viel von dieser Diskussion spielte sich in den USA ab, aber nach und nach kamen solche Problemstellungen auch in europäischen und nordischen Kreisen auf die Tagesordnung. Ein Beispiel sind die beiden erwähnten internationalen Konferenzen in Barcelona in den Jahren 1987 und 1993.

Die schädlichen Wirkungen des Sektierertums - schwedische Beiträge

Wir haben uns nun einigemal auf amerikanische Fachleute und Forscher bezogen, die sich in der Sektenproblematik engagiert haben. Bezüglich des Wertes der Übertragung auf europäische und skandinavische Verhältnisse kann man geteilter Meinung sein. Der religiöse Pluralismus und die Sektenwelle, welche die USA prägten, haben sich nicht in gleich hohem Ausmaß im europäischen Zusammenhang geltend gemacht. Die Volksreligiosität in den nordischen Ländern war wohl einheitlicher und wirkte bremsend auf das Aufblühen neuer religiöser Gruppen. Ich möchte mich in der Folge auf einige schwedische Beiträge konzentrieren, um zu zeigen. daß einiges von derselben Diskussion wie in den USA derzeit auch auf die skandinavischen Länder zukommt.

Der Oberarzt Bo Gunnar Johnson beschreibt in Läkartidnigen [Ärztezeitung] Nr. 37, 1984, eine Analyse von 8 Fällen von Psychosen bei Personen, welche an verschiedenen Meditationsübungen teilgenommen hatten. Er stellt die Frage, ob es zulässig sei, mit einer spezielle Meditationspsychose zu rechnen. Er faßt seine Beobachtungen folgendermaßen zusammen: "Die Übereinstimmung der Symptombilder spricht dafür, daß ein spezielles Syndrom vorliegt, das durch eine Manipulation des Bewußtseins ausgelöst wird. Das zentrale Phänomen ist eine spezielle Aktivität im autonomen Nervensystem. Dies beinhaltet eine Aktivierung und eine Belastung von kognitiv-emotionellen Funktionen, welche bei prädisponierten Individuen einen psychoseartigen Prozeß von oft langer Dauer auslösen kann." (Johnson, 1984).

Er sagt ferner: "Da dies als potentielles Gesundheitsproblem aufgefaßt wird, wird nun in Dänemark eine Inventur der Vorkommnisse von "Meditationspsychosen" durchgeführt. Man hält es auch für wahrscheinlich, daß es sich um eine spezielle Psychoseform handelt." (Johnson, 1984).

Auf eine gewisse Weise liegt dies etwas außerhalb unseres Hauptthemas über Sektierertum in religiösen Bewegungen. Gleichzeitig gibt es jedoch in einer Reihe neureligiöser Bewegungen bekannterweise verschiedene Meditationsaktivitäten. Es ist deshalb interessant und nützlich zu wissen, daß diese Frage auch in Schweden gestellt wurde.

Die Ergotherapeutin Gudrun Swartling und der Arzt Per Swartling veröffentlichten in der Aprilnummer 1991 der Läkartidningen [Ärztezeitung] eine Untersuchung ehemaliger Mitglieder von Livets Ord [Wort des Lebens]. (Swartling, 1991).

Aus einem Material von 43 ehemaligen Mitgliedern gaben 93 % an, daß sie nach dem Bruch mit Livets Ord Angstzustände hatten. 86 % gaben an, daß sie Alpträume und Schlafstörungen hatten, 88 % kämpften mit dem Gefühl der Leere, 75 % hatten Konzentrationsschwierigkeiten. 91 % hatten Probleme, mit ihren Gefühlen umzugehen. 93 % kämpften mit Schuldgefühlen. 72 % hatten nach dem Bruch Probleme mit sozialen Kontakten.

Swartling stellt die selbe Frage, die mehrere Forscher in Fachkreisen stellen: Sind diese psychischen und sozialen Schäden Ausdruck einer neuen Type von mentalem Leiden, welches durch das Sektenmilieu erzeugt wird ?

Die Schweden sprechen in diesem Zusammenhang von einer "sektsjuka" ["Sektenkrankheit"].

Die Psychologin Monica Ahlberg schreibt in Psykolog Tidningen [Psychologen-Zeitung] Nr. 6 / 1993 einen Bericht über ein Rehabilitierungsprogramm im Sommer 1992 in Lima in Schweden. Etwa 15 Jugendliche waren bei diesem dreiwöchigen Rehabilitierungsaufenthalt dabei. Fachlich verantwortlich war Dr. Paul Martin, Psychologe und Leiter des Wellspring Retreat and Resource Center in Ohio.

Die Eindrücke von diesem Seminar formuliert sie als eine Aufforderung für Fachkreise. Sie meint u.a., daß die sogenannte "Sektsjukan" ["Sektenkrankheit"] ein zunehmendes gesellschaftliches Problem besonders bei Jugendlichen ist. Es ist an der Zeit, daß die Kompetenzen in verschiedenen Fachkreisen verstärkt werden. (Ahlberg, 1993).

Der Professor der Psychiatrie Jan-Otto Ottoson hat sich in der Sektenproblematik engagiert. In einem Artikel in der Läkartidningen [Ärztezeitung] Nr. 16 / 1993 kommentiert er Swartlings Untersuchungen mit einigen Betrachtungen bezüglich Indoktrination. Er schreibt u.a. : "Über Probleme wie Angst, Persönlichkeitsspaltung, Konzentrationsschwierigkeiten, Apathie, Schuldgefühle, optische und akustische Halluzinationen und Selbstmordgedanken wird bei den Sektenmitgliedern berichtet, welche einseitiger Beeinflussung unter autoritären Formen ausgesetzt sind. Unter dem Schutz der Religionsfreiheit wird die persönliche Integrität verletzt, und die UNO-Konvention über die Rechtes des Kindes wird nicht beachtet. Da die Probleme ernst sind und die Behandlung in den psychiatrischen Einrichtungen immer noch schlecht entwickelt ist, wird vorgeschlagen, auch in Schweden jene Art von Rehabilitation einzurichten, die in den USA erfolgreich war." (Ottoson, 1993).

Soweit ich sehen kann, gehört dies zu den ersten gewichtigen Aufrufen von psychiatrischer Seite in Schweden, welche Diskussion und Maßnahmen bezüglich ehemaliger Sektenmitglieder fordern. Weitere Arbeit mit dieser Problemstellung wird hoffentlich die Kompetenz in Fachkreisen verbessern und zu vermehrter Forschung über die Zusammenhänge zwischen religiösem Sektierertum und mentalen Leiden anregen.

Literatur

Die folgende angeführte Literatur ist auch in deutscher Sprache verfügbar:

Conway, F., und Siegelmann, J. 1978. Snapping: Amerikas Epidemie der plötzlichen Persönlichkeitsveränderung . AGPF.

Conway, F., und Siegelmann, J. 1982. Krank durch Information. Haben Sekten eine neue Geisteskrankheit geschaffen ? AGPF.

Delgado, R. (1977). Religiöser Totalitarismus: Mäßige und unmäßige Überredung unter dem Ersten Amandment. AGPF.

Hassan, S. : Ausbruch aus dem Bann der Sekten, rororo-Sachbuch Nr. 9391. (vergriffen)

Lavik, N.J. (1985) Erlöst oder verführt

Lifton, R.J. Acht Kriterien der Bewußtseinsmanipulation.

Løvås, E. Machtmenschen. Die Lust zu herrschen und die christliche Gemeinde. Brendow-Verlag, 1990.

Martin, P.M. Wie man Kinder kultfest macht

Singer, M. Der Ausstieg aus der Sekte. AGPF.

Wilting, J. Das Reich, das nicht kam. IKS Garamond

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Dagfinn Ulland geb. 1950. Hochschullektor an der Hochschule in Agder. Volkshochschullehrer 1975-81, Krankenhauspriester 1981-86, Gemeindepfarrer 1986-92. Betrieb Forschungen über die Beziehung der Kirchen zu neureligiösen Sekten.

Anschrift: Hochschule in Agder, Abteilung für die humanistischen Fächer, Facheinheit für Theologie, Kongsgård Allé 20, N-4604 Kristiansand.

Übersetzung: Friedrich Griess