Kapitel 12

Richard L. Dowhower, D.D.:

Ratschläge für Seelsorger

Meine Erfahrungen mit Menschen, die aus manipulativen und Mißbrauch treibenden religiösen und psychotherapeutischen Gruppen austreten, haben mir immer wieder den universellen Bedarf dieser ehemaligen Kultmitglieder an einer speziellen Art von Beratung vor Augen geführt. In den meisten Fällen benötigen sie eine entscheidende Begegnung, Verbindung und Beziehung mit einem pastoralen Berater, der spirituell gereift ist, über theologisches Wissen verfügt und Kennt-nisse über Kulte hat. Jemand, der in einem religiösen Kult war, benötigt einen Berater, welcher die Legitimität der spirituellen Fragen dieser Person bejaht, ohne Rücksicht darauf, wie sehr diese Person in die Irre geleitet worden sein mag. In diesem Kapitel möchte ich Fragen diskutieren, von denen ich glaube, daß Seelsorger sie beachten sollten, wenn sie sich mit ehemaligen Kultmitgliedern beschäftigen.

Ehemalige Mitglieder und helfende Fachleute, die rein "weltlich" orientiert sind, werden sich vermutlich nicht mit den spirituellen Fragen befassen wollen, um die es hier geht; dennoch glaube ich, daß gewisse allgemeine Grundsätze und Richtlinien für das Verständnis und die Beratung ehemaliger Kultmitglieder aus dem abgeleitet werden können, was in diesem Kapitel ausgedrückt wird.

Die Stimmen der Wiederherstellung

"Die spirituelle Vergewaltigung in meinem Kult war schmerzvoller als der sexuelle und physische Mißbrauch."

"Als ich meiner Gruppe beitrat, dachte ich, es sei Gott, der mich beriefe, und jetzt weiß ich nicht, woher dieser Ruf kam."

"Verriet ich Gott durch den Beitritt zu einem Kult ? Wird er mir vergeben ?"

"Ist es in Ordnung, wenn ich gar nichts glaube nach dieser Erfahrung, die ich gerade mit einer New-Age-Gruppe machte ?"

"Ich habe kein Problem mit den Menschen, sondern mit Gott. Ich wollte ehrlich das Richtige tun ... nun kann ich nicht mehr beten. Wenn diese Kulterfahrung dein Wille für mich war, Gott, dann sch... ich auf dich. Ich glaube nicht, daß es Gottes Wille war, aber es tut weh."

"Obwohl meine Gruppe nicht religiös war, so sprach sie doch dieselben Bedürfnisse an, die eine religiöse Gruppe anspricht. Mein Führer bot mir spirituelle Antworten an. Ich glaube nicht, daß ich Gott verriet, aber ich verriet meine Freunde und meine Familie."

"Ich ging zum Seelsorger meiner Familie, aber er war keine Hilfe für mich. Ich fühle, daß die Bibel an einer organisierten Religion nicht interessiert ist."

"Die Erwachsenen in der Erfahrung des rituellen Mißbrauches in meiner Kindheit waren die Elite unserer Stadt - Doktoren, Anwälte und sogar ein protestantischer Geistlicher."

"Nachdem ich meine Gruppe verlassen hatte, wollte ich spirituell sein. Für mich ist Liebe einfach Liebe. Ich habe ein Problem, an ein höheres Wesen zu denken. Mir gefällt die Idee des 'Glaube an dich selbst'."

Dies sind nur ein paar Beispiele von freimütigen Bekenntnissen einiger ehemaliger Kult-mitglieder bezüglich der religiösen und spirituellen Fragen, die nach ihrem Austritt aus der destruktiven Gruppe ungelöst blieben. Einige davon stammen aus freiwilligen Berichten von einem Rehabilitationswochenende, das von der American Family Foundation veranstaltet wurde. Einige andere stammen aus privaten Interviews während der vergangenen 17 Jahre.

Solche aufschlußreiche Aussagen hören typischerweise viele empfindsame und gerade anwesende Seelsorger in Gemeindeversammlungen, Militärpfarren, Universitätspfarren, Kolleg- und Seminar-Klassenzimmern und Fakultätsbureaus sowie in den Bureaus spezialisierter pastoraler Berater und Psychotherapeuten. Es hören sie auch leitende Seelsorger in den Bureaus der Konfessionen und in den Kirchenversammlungen.

Eine theologische Orientierung

Meine eigene theologische Tradition gesteht den Bedürfnissen des menschlichen Geistes und Wesens an Erfahrungswissen über die eigene unbedingte Akzeptanz durch den Heiligen Anderen, den Allmächtigen Gott, den Schöpfer des Universums, den Grund alles Seienden, der Letzten Realität, die höchste Priorität zu. Jahweh's chesed zu kennen, die standhafte Liebe, die ewig währt, oder die "Gnade" des Herrn Jesus Christus soll "überall bekannt werden und liebt weiterhin und alles". Es ist Liebe ohne Einschränkungen.

Mein Ziel als Pastor, der ehemalige Kultmitglieder berät, ist es daher, dieses chesed / die Gnade in unseren Treffen widerzuspiegeln. Ich möchte, innerhalb meiner bedingten Grenzen, diese Person so bedingungslos wie möglich akzeptieren. Ich möchte diese Person so akzeptieren, wie sie ist, und versuche, durch das chesed / die Gnade bei einem solchen Treffen ihr zu helfen, ihre eigene Theologie zu definieren und darauf aufbauend Ziele für ihr Leben zu setzen und zu verfolgen.

Das bedeutet, daß ich als christlicher Seelsorger der lutherischen Tradition mich nicht in der Lage befinde, die Person zu einer vorher definierten Bekehrungsentscheidung zu drängen. Eine "missionierende" Beratung von ehemaligen Kultmitgliedern verletzt nicht nur meine Theologie von chesed / Gnade, sondern sie würde auch eine direkte Bedrohung durch einen anderen religiösen Angriff auf die Person bedeuten, nicht unähnlich der Manipulation und dem Mißbrauch durch den Kult. Meine Ausbildung an einem kirchlichen College umfaßte auch einen vorgeschriebenen Kurs in jüdisch-christlicher Ethik; eine wichtige These der jüdisch-christlichen Tradition ist die, daß wir die Menschen als Endzweck betrachten und nicht als Mittel zu einem anderen Zweck

Ich glaube, wir entwickeln unsere menschlichen Fähigkeiten, um chesed / Gnade zu

empfangen und sie aus kurzen Erfahrungen von bedingungsloser Zuwendung in zwischen-menschlichen Beziehungen zu verstehen, beginnend mit der eigenen Herkunftsfamilie. Ebenso versuche ich, die pastoralen Beratungen mit einem ehemaligen Kultmitglied so zu gestalten, daß er / sie chesed / Gnade erfährt. Dann kann dieser Mensch ohne Zwang festlegen, welche theologischen und den Lebensstil betreffenden Entscheidungen als nächste kommen mögen. Meine Theologie sagt mir, daß das Werke der Bekehrung Gottes Werk ist; meine Aufgabe ist es, getreu den gemeinsam identifizierten Bedürfnissen des Kultopfers zu dienen.

Jemandem helfen, "Theologie zu betreiben"

Die Aufgabe eines spirituell reifen und theologisch ausgebildeten pastoralen Beraters ist es, dem Betreffenden zu helfen, "Theologie zu betreiben"., d.h. ihn zu einem denkenden und fühlenden Prozeß zu ermutigen, bei dem er über den letzten Sinn seiner Lebenserfahrung nachdenkt und diesen Sinn in einer rationalen und kohärenten Weise artikuliert. In den meisten Kultbereichen stellen die Gruppe und ihre Leiter grandiose Ansprüche, die Wahrheit zu besitzen. All dies ist jedoch mit massiven Widersprüchen belastet, vor allem in der tatsächlichen Praxis des Kultes und im Lebensstil der Führer. Diese Heuchelei und die intellektuell unhaltbare Theologie lassen das ehemalige Kultmitglied mit großer Verwirrung darüber zurück, was theologisch gültig ist und was nicht.

In den oben zitierten Aussagen ehemaliger Kultmitglieder hört man das Streben nach der Bekräftigung spiritueller Bedürfnisse und nach Unterscheidung zwischen gesunder Religion und einer Theologie, die ungesund und unreif ist und die einen für den Mißbrauch durch andere verletzlich macht. Dieser Prozeß des Nachdenkens und der Überlegung sucht die göttliche Gegenwart und Aktivität in, mit und unter den gewöhnlichen Erfahrungen des persönlichen Lebens zu identi-fizieren. Er sucht die wichtigsten theologischen Beweggründe in der kultischen Theologie zu erforschen und zu identifizieren und die Bedürfnisse des Einzelnen sichtbar zu machen, die zunächst einem solchen Anspruch unterworfen wurden.

Das unmittelbare Ziel ist es, die spirituelle Gabe der Unterscheidung zu fördern, zu entwickeln und zu stärken. Menschen, deren Spiritualität reift und sich in konsistenter Weise entwickelt, sind fähig, den Unterschied der Geister zu erkennen: diejenigen, welche legitimer- weise Gott zugesprochen werden können, und diejenigen, bei denen dies nicht der Fall ist. Viele ehemalige Kultmitglieder weisen bei ihren Entschlüssen, einer Gruppe beizutreten und sich dort zu engagieren, welche auf ihr Leben destruktiven Einfluß hat, einen Mangel an weiser Unter-scheidungsgabe auf.

Ich gehe von der Annahme aus, daß es Ansprüche an die Wahrheit gibt, die auf der Grundlage innerer Kohärenz, Bestätigung durch die Geschichte des religiösen Denkens und der Fähigkeit, der Lebenserfahrung Sinn zu geben, theologisch respektabel sind. Die meisten Gruppen, welche als vorsätzlich destruktiv bekannt sind, haben Wahrheitsansprüche oder Theologien, die mangelhaft sind.

Die theologische Orientierung von Kulten

Religiöse und psychotherapeutische Bewegungen, welche die Menschenrechte verletzen, haben einige gemeinsame theologische Charakterzüge. Es sind gewöhnlich zeitgenössische Versionen der alten christlichen Irrlehre der Gnosis, welche lehrt, daß man nur durch eine spezielle Er-leuchtung gerettet werden kann, das Privilegium einer spirituellen Elite.

Die meisten religiösen Kulte verneinen den Anspruch des Judentums, die volle Offenbarung Gottes zu sein. Viele von ihnen behaupten, Jesus von Nazareth habe nicht für alles gesorgt, was zum Heile notwendig sei, und habe auch nicht die volle Offenbarung Gottes gebracht. Jeder dieser Kulte hat einen Leiter, welcher behauptet, das Erlösungswerk der Menschheit zu vollenden und die Fülle der geoffenbarten Wahrheit zu bieten. Deshalb ist von ihrem Standpunkt aus die Heilige Schrift unzulänglich, genau so wie die etablierten Synagogen und Kirchen unzulänglich als Gemeinschaften sind, welche die Seelen zum Heile führen sollen.

Mein Kollege Richard Jensen, ein lutherischer Radio-Evangelist, wies darauf hin, daß die Offenbarungen der biblischen Berichte öffentlich erfolgten; d.h. Gott offenbarte die göttliche Identität Gruppen von Leuten, welche Augenzeugen dieser historischen Ereignisse waren. Im Gegensatz dazu erhielten Kultführer private göttliche Offenbarungen, die nicht von Gläubigen oder Kritikern überprüft werden konnten. Einige New-Age-Kulte bieten ihren Gläubigen die Hoffnung an, Gott zu werden, eine Möglichkeit, die von vielen Kultführern verordnet wird.

Vergleiche und Unterschiede

Mein erster Beratungsklient lehrte mich eine Menge. Er war ein etwa zwei Meter großer und fast kahler holländischer ehemaliger Hare-Krishna-Anhänger. Ein Deprogrammierer (wie wir sie damals, Ende der Siebzigerjahre, nannten) brachte ihn zu mir, so daß ich beim Prozeß der Rückkehr assistieren konnte. Der Deprogrammierer benötigte jemanden, um dem jungen Mann bei der Unterscheidung von gesunden und kranken Religionen zu helfen.

Die folgende Liste der Gegensätze und Vergleiche gibt die Unterschiede wieder, die sich für mich aus diesen Gesprächen ergaben.

Religionen respektieren die Autonomie des Einzelnen.

Kulte erzwingen Unterwerfung.

Religionen versuchen, dem Einzelnen zu helfen, seine spirituellen Bedürfnisse zu erfüllen.

Kulte nützen spirituelle Bedürfnisse aus.

Religionen tolerieren Fragen und unabhängiges kritisches Denken und ermuntern sogar dazu.

Kulte mißbilligen Fragen und unabhängiges kritisches Denken.

Religionen ermutigen zu psychospiritueller Integration.

Kulte zerteilen das Mitglied in "das gute Kult-Ich" und das "bösen alte Ich".

Bekehrung zu Religionen besteht aus einer Entfaltung von inneren Prozessen, die im Zentrum der persönlichen Identität stattfinden.

Kultische Bekehrung besteht aus einer nichtsahnenden Hingabe an äußere Kräfte, die sich wenig um die Identität der Person kümmern.

Religionen betrachten Geld als ein Mittel, das, ethischen Beschränkungen unterworfen, zur Erreichung edler Ziele dient.

Kulte betrachten Geld als einen Zweck, als ein Mittel, Macht oder die selbstsüchtigen Ziele

der Führer zu erreichen.

Religionen betrachten Sex zwischen Geistlichen und Gläubigen als unethisch.

Kulte unterwerfen Mitglieder oft dem sexuellen Appetit der Führer.

Religionen antworten auf Kritik respektvoll.

Kulte schüchtern Kritiker oft mit physischen oder rechtlichen Drohungen ein.

Religionen schätzen die Familie.

Kulte betrachten die Familie als Feind.

Religionen ermuntern Anwärter, sorgfältig zu überlegen, bevor sie sich zum Beitritt entschließen.

Kulte ermuntern zu schnellen Entscheidungen auf Grund von wenig Information.

Unklarheiten betreffend: eine philosophische Anmerkung

Ein universales Thema, das meine Erfahrung mit der Wiederherstellung ehemaliger Kultmit-glieder durchdringt, ist die Art und Weise, wie sie mit Unklarheiten fertig werden, d.h. mit dem Vorhandensein von Komplexität und Unsicherheit angesichts des Bedürfnisses der Gläubigen nach absoluter Gewißheit.

Das Kultwesen, noch mehr als religiöser Fundamentalismus, nützt diese Sehnsucht, die Komplexität, Unsicherheit und die Probleme der diskutierbaren Interpretation zu überwinden, aus, um das zu garantieren, was ein alter Hymnus die "gesegnete Sicherheit" nennt. Der Evangelikale Harold H. Bussell (1983) hat deshalb gute Gründe, seine Betroffenheit darüber auszudrücken, warum fundamentalistische Christen so kultanfällig zu sein scheinen. Kulte, besonders Bibelkulte, gehen sozusagen einen Schritt weiter und mögen dabei manchen Fundamentalisten einen noch größeren Sinn für Sicherheit bieten.

Ich glaube, daß das Nicht-Dulden von Unsicherheit eine Einladung zur eindeutigen Weltsicht der Kulte darstellt. Dieser rigide und vereinfachende Stil, Ideen zu verarbeiten, ist für in der Wiederherstellung befindliche ehemalige Kultmitglieder typisch und stellt eine Heraus-forderung für den seelsorglichen Berater dar, besonders für einen, der diesen Hang nicht teilt.

Ich halte es für nötig, dem ehemaligen Kultmitglied zu erlauben, andere Denkweisen auszuprobieren, es dazu zu ermutigen und ihm Fähigkeiten beizubringen, welche Alternativen zu der herkömmlichen Art ehemaliger Kultmitglieder darstellen, Glaubensprobleme zu verarbeiten.

Im Konflikt zwischen den Unsicherheiten, mit denen sich intellektuelle Redlichkeit auseinandersetzen muß, und dem emotionellen Bedürfnis für Heilsgewißheit werfen Kultführer und, in geringerem Maße auch Fundamentalisten, die Probleme der Unsicherheit um des Gefühles der Sicherheit willen über Bord. Dies kann sich als eine sehr kostspielige Entscheidung

herausstellen.

Verstehen der Bedingungen von in Wiederherstellung begriffenen ehemaligen Kultmitgliedern

Die Wirksamkeit der Seelsorge an ehemaligen Kultmitgliedern hängt in großem Maße vom Verständnis und vom Einfühlungsvermögen des Seelsorgers für die Erfahrungen und für den Mißbrauch ab, unter denen die Kultmitglieder gelitten haben. Manche Mitglieder wurden physisch oder sexuell mißbraucht, während sie im Kult waren. Und alle ehemaligen Kult-mitglieder litten unter psychologischem Mißbrauch, von dem sie sich noch immer auskurieren.

Ein Kultbeobachter mit langjähriger Erfahrung, Ronald Enroth, studierte mißbrauchende evangelikale christliche Gruppen, die in der Antikult-Bewegung als "Hirten/Jünger"-Kirchen bezeichnet werden. Enroth (1992) beschreibt die Zustände dieser Opfer:

Anders als physischer Mißbrauch, dessen Ergebnis oft mißhandelte Körper sind, läßt der spirituelle und pastorale Mißbrauch Narben an der Psyche und Seele zurück. Schuld daran sind Personen, denen wegen ihrer Rolle als religiöse Führer und Vorbilder als geistliche Autoritäten Respekt und Ehre erwiesen wird .... Aber wenn sie dieses Vertrauen brechen, wenn sie ihre Autorität mißbrauchen, und wenn sie kirchliche Macht dazu benützen, um die Herde zu steuern und zu manipulieren, dann können die Folgen katastrophal sein. Die Perversion der Macht, die wir in mißbrauchenden Kirchen erleben, zerstört und spaltet Familien, begünstigt eine unheilvolle Abhängigkeit der Mitglieder von der Leitung und erzeugt schließlich spirituelle Verwirrung im Leben der Opfer. (S. 29)

Sich konstruktiv mit dieser spirituellen Verwirrung zu befassen ist das Ziel pastoraler Sorge für ehemalige Kultmitglieder. Positiv ist, daß Seelsorger oft am besten darauf vorbereitet sind, dies zu tun; negativ ist nicht nur, daß Seelsorger unter Verdacht stehen, nur wieder ein neuer Mißbraucher wie der vorherige zu sein, sondern auch, daß manche Seelsorger Probleme beim Verständnis und bei der Akzeptanz der Erfahrung des Mißbrauches haben, der hier beschrieben wird.

Vielleicht können Seelsorger die Erfahrungen der Opfer besser verstehen, wenn sie sich Enroths 10 Merkmale mißbrauchender Kirchen vor Augen halten:

1. Auf Kontrolle ausgerichtete Leitung

2. Elitäre Spiritualität

3. Manipulation der Mitglieder

4. Die Vorstellung, verfolgt zu werden

5. Ein anspruchsvoller rigider Lebensstil

6. Schwergewicht mehr auf Erfahrung als auf Rationalität

7. Unterdrückung von Dissidenten

8. Strenge Disziplin der Mitglieder

9. Herabsetzung anderer Kirchen

10. Ein schmerzlicher Ausstiegsprozeß

Dazu möchte ich noch andere Merkmale hinzufügen, die einem weiteren Kreis von mißbrauchenden religiösen und therapeutischen Gruppen gemeinsam sind:

o Extreme Manipulation durch Schuldgefühle und Furcht

o Sexueller Mißbrauch von Frauen und Kindern

o Wirtschaftliche Ausbeutung

Komplizierende Faktoren

Ein Überblick über meine Beschäftigung mit der Wiederherstellung ehemaliger Kultmitglieder in den letzten vier Jahren enthüllt eine Anzahl komplizierender Faktoren. Diese Faktoren beeinflussen die Seelsorge und die theologischen Fragen, sind aber nicht ausschließlich durch den Kult verursacht, noch sind sie immer theologischer Natur. Aber sie beeinflussen den theolo-gischen Prozeß. Es sind oft Probleme, die aus der Vergangenheit des ehemaligen Kultmitgliedes herrühren, einschließlich gestörter Familien und einer Geschichte des Drogen- und Alkohol-mißbrauches.

Ein junger Mann berichtete in einer Wiederherstellungs-Gruppensitzung, daß er in einer gestörten Familie aufgewachsen war und diese dann verließ, um sich einer gestörten religiösen Gruppe anzuschließen. Dies ist ein Beispiel für die Erkenntnisse des Pioniers und Therapeuten für Familiensysteme, Rabbi Edwin Friedman (1985). In Friedmans fortgeschrittenem Seelsorger-Seminar über emotionale Familienprozesse spricht er von der Notwendigkeit, individuelle Unterscheidungen zu treffen, und von der Tendenz mancher Familiensysteme, statt dessen Fusionen zu begünstigen. "Familiensysteme, welche Kultmitglieder hervorbringen, sind unheil-bar fusioniert und nicht differenziert", stellt Friedman fest. "Kulte zerstören nicht Familien; Familien bilden Kultmitglieder heran". Obwohl die meisten Kliniker, die mit Kultmitgliedern gearbeitet haben (Clark, 1979; Singer, 1979), Rabbi Friedman schärfstens widersprechen und seine Behauptungen übertrieben nennen würden, glaube ich doch nicht, daß sie bestreiten würden, daß eine merkbare Minderheit von Kultmitgliedern aus solchen Familien kommt. Wenn diese Leute die Kulte verlassen, dann beginnen ihre Familienkonflikte von neuem und überschatten oder verkomplizieren manchmal die spirituellen Bedürfnisse.

Andere ehemalige Mitglieder, mit denen ich gearbeitet habe, zeigten eine gestörte Entwicklung in Reifungsprozessen wie Sozialisation und Sexualität und ihrer Beherrschung. Im Falle zweier alleinstehender heterosexueller Männer Mitte 20 produzierte die Unfähigkeit, sinnvolle intime Beziehungen zu Frauen einzugehen und ihre eigenen sexuellen Triebe zu akzeptieren, massive Anfälle von Schuldgefühlen. Diese Gefühle führten nicht nur einen jungen Mann in eine völlig gesteuerte zölibatäre religiöse Gruppe, sondern verursachte auch einen schrecklichen Hang nach religiöser oder spiritueller Befreiung von der Bürde der Schuldgefühle. Einem Psychologen zufolge, der mit einem der jungen Männer gearbeitet hatte (und dem ich zustimmte), war das Problem nicht das extremistische religiöse Streben des jungen Mannes, sondern der Trieb, der ihn dazu brachte, nämlich die unbefriedigten sozialen, intimen und sexuellen Bedürfnisse. Ich sprach mit jedem von ihnen über den Bereich ihrer primären Interessen - nämlich biblische Theologie -, hatte aber zunächst keinen Erfolg, da ich das Thema ihres unbewußten eigentlichen Interesses nicht anschnitt. Wir kamen solange auf keinen grünen Zweig, bis wir uns schließlich auf die Anstrengungen der biblischen Männer konzentrierten, ihre Sexualität vor Gott verantwortlich handzuhaben.

Spirituelle Leere

In der Landschaft von in Wiederherstellung begriffener ehemaliger Kultmitglieder gibt es eine Anzahl spiritueller Wüsten. Manchmal ist es eine Kindheit, in der die Familien- und persönliche Erfahrung jede sinnvolle Erziehung in einer religiösen Tradition, geistlichen Erfahrung, religiö-sen Bildung oder organisierten Aktivität entbehrt. In manchen Fällen haben formal religiöse Familien die Tendenz zu einem Prozeß der Säkularisierung ihres Lebensstiles. Als ich z.B. einen ehemaligen Anhänger der Moon-Sekte von einem Mittagessen zu einem Fernsehinterview fuhr, wo wir mit seinem Bischof und seinen Eltern auftreten sollten, vertraute er mir an, daß, obwohl ihn seine Eltern 16 Jahre lang in eine konfessionelle Schule gehen ließen, sie deren Tradition keinen Einfluß auf ihren Stil des Lebens, Arbeitens und Spielens erlaubt hatten. Für andere mag es keine gangbare religiöse Tradition geben, zu der sie zurückkehren könnten.

Enroth (1992) beobachtet, daß "sie gemeinsam das Leid ertragen werden, eine unter-drückerische Kirche zu verlassen und um die Anpassung an das Leben außerhalb zu kämpfen. Für viele von ihnen hatte das Leben in einer alles beherrschenden christlichen Umgebung so verheerende Wirkungen, daß sie es manchmal schwierig finden, die Bibel zu lesen, zur Kirche zu gehen oder sogar an Gott zu glauben" (S. 30).

Das in Wiederherstellung begriffene ehemalige Kultmitglied mag sich wohl in einer Zeit spiritueller Leere befinden, da es ein alles beherrschendes System aufgegeben hat, das versuchte, Sinn und Richtung für das Leben zu geben. Der Kult mag einen spirituellen Mentor vorgesehen haben, von dem das ehemalige Mitglied nun getrennt ist. Obwohl das ehemalige Kultmitglied die Gruppe auf Grund einer rationalen und abwägenden Entscheidung verlassen haben mag, die durch eine wachsende Erkenntnis der Destruktivität, Heuchelei und Manipulation der Gruppe verursacht war, fühlt es doch einen starken Verlust, welchen ein feinfühliger pastoraler Berater berücksichtigen muß. Daher ist es ein wesentlicher Punkt der Seelsorge, den Kummer des ehemaligen Mitgliedes über den Verlust zu verstehen, einen Kummer, welcher durch die gemischten Gefühle über das verkompliziert wird, was zurückgelassen wurde.

Eine Checkliste der spirituellen und theologischen Fragen

Es gibt ein Menü von spirituellen Fragen, das zur Klärung, Unterscheidung und Information durch den geistlichen Berater nützlich ist. Die unten angeführten Kategorien sollten ange-sprochen werden und die Theologie des Kultes sollte verständlich gemacht und hinterfragt werden. Außerdem muß der Berater dem in Wiederherstellung begriffenen ehemaligen Mitglied eine maßvolle Ermutigung anbieten, sich zu den glaubwürdigeren Auffassungen religiöser oder philo-sophischer Systeme zu bewegen.

Folgendes sind wichtige Fragen, die abzudecken sind:

1. Persönliches Unwert- und Schuldgefühl. Wie ich früher beschrieben habe, ist der Bedarf für Vergebung und der Aufbau von Selbstachtung, gegründet auf einem Sinn für göttliche Bestätigung, wesentlich.

2. Apokalyptische Furcht. Jeder Kult, den ich bisher kennenlernte, hat einen schrecklichen Sinn für Eile, die den Anwärter zu sofortigen Entscheidungen, völligem Einsatz und radikalem Handeln treibt. Die meisten dieser Kulte werden vom Glauben getrieben, daß wir in einer Zeit leben, in der Gott diese Ära der menschlichen Geschichte durch irgend ein drama-tisches und zerstörerisches Ereignis beenden wird, ab dem nur die besonders Erleuchteten / Geretteten am Überleben von Gottes eigenem Volk teilhaben werden. Ich glaube, daß dies ein Thema des heutigen Zeitgeistes aufgreift; es muß erforscht und angesprochen werden.

3. Dämonische Wirklichkeiten. Während die Säkularisierung der westlichen Kultur stattfand, geriet das dreistöckige mit Engeln und Dämonen bevölkerte Universum in vielen hochkultivierten Gesellschaften in Mißkredit. Der in manch kultischem Denken und Praxis tief in den Eingeweiden sitzende Sinn für das Dämonische und die stete Gegenwart von Sünde und Übel haben manche tiefschürfenden Persönlichkeiten veranlaßt, das alte Weltbild wieder zu reaktivieren. Karl Menningers Whatever happened to sin ? (1973) und M. Scott Pecks The People of the Lie (1978) haben viel dazu beigetragen, die Alarmglocken läuten zu lassen, damit wir für die Existenz geistiger Mächte offen sind.

4. Die Diskussion über Exorzismus und Geisterbeschwörung. Während ich mir der Bekräftigung geistiger Mächte in der Tradition des heiligen Paulus in Eph. 6 bewußt bin, muß ich auch zugeben, daß ich in mehr als dreißig Jahren seelsorglicher Tätigkeit, davon der Hälfte innerhalb des Anti-Kult-Netzwerkes, es niemals mit Erkrankungen von Menschen durch jenseitige geistige Mächte zu tun hatte, welche im Körper eines Menschen Wohnung genommen hatten, wie bei dem kleinen Mädchen in William Blatty's The Exorcist, einem Roman und Film, der angeblich auf einer seelsorglichen Erfahrung eines Priesters in Mt. Ranier, Maryland, nahe meinem gegenwärtigen Wohnort gründet.

Einerseits vermute ich, daß die Diagnose von dämonischer Besessenheit eine ungerecht-fertigte Abschiebung der Verantwortung in der schwierigen Arbeit der Psychotherapie sein könnte. Andererseits hat mich meine pastorale Erfahrung mit genügend vielen außermedizini-schen Heilungen konfrontiert, um mich für das offen zu halten, was viele "Wunder des göttlichen Eingreifens" nennen würden und was andere anders erklären könnten.

Wenn mein geachteter Kollege Fr. James LeBar (1991) über authentische Fälle von "teuflischer Anwesenheit" berichtet und in der Sendung "20/20" der ABC auftritt, um von einem Exorzismus zu erzählen, dann muß ich für Möglichkeiten offen bleiben, die über meine bisherige Erfahrung hinausgehen. Ich lade andere Geistliche ein, dasselbe zu tun.

Wir müssen eine ausgewogene Perspektive behalten. Ein in Wiederherstellung begrif-fenes Opfer der multiplen Persönlichkeitsspaltung machte mich mit der Arbeit von Dr. James Friesen (1991) bekannt. Er berichtet von der Erfahrung seines therapeutischen Teams mit Opfern von Kindheitstraumata, die zweite Persönlichkeiten entwickelten, um den Leiden ihrer unmittel-baren Erfahrung zu entkommen. Als ausgesprochener evangelikaler Christ argumentiert Friesen überzeugend, daß Geisterbeschwörung nicht multiple Persönlichkeitsspaltung heilt, sondern die Praxis wirklicher Therapie verzögert; gleichzeitig bekräftigt er die Möglichkeit dämonischer Besessenheit, mit der man rechnen müsse.

5. Furcht vor der ewigen Verdammnis. Kulte schneiden Leute von allem ab, einschließlich der Möglichkeit ewigen Lebens außerhalb der Gruppe. Mächtige Ängste werden im Kult absichtlich eingepflanzt und stimuliert: "Wenn du uns, Gottes einziges wahres Volk, verläßt, dann wirst du von Gott verstoßen und fallengelassen. Schreckliche Dinge werden dir und jedem, der sich um dich kümmert, zustoßen. Du wirst ewig in der Hölle brennen." Hilfe, dieses Vermächtnis von Einfluß zu überwinden, das einer posthypnotischen Suggestion ähnlich ist, ist eine wichtige pastorale Aufgabe bei der Wiederherstellung aus Kulten. Wir müssen den ehemaligen Mitgliedern helfen zu verstehen, daß die Gruppe Unrecht hatte, daß sie befreit wurden und daß Gott ihnen nun gnädig ist.

Schlußfolgerung

Geistlich reife und theologisch geschulte Pastoralberater mit praktischer Kenntnis destruktiver Kulte können bei der Wiederherstellung ehemaliger Mitglieder hilfreich sein, wenn sie folgendes beachten:

1. Zusätzlich zum allgemeinen Wissen über Kulte muß man die speziellen Lehren und Praktiken der betreffenden Gruppe kennen. Die American Family Foundation und das nationale Büro des Cult Awareness Network haben Pakete von Material über bestimmte Gruppen. Die besondere Theologie und die Schwerpunkte einer Gruppe sind wichtige Unterlagen für den pastoralen Beratungsprozeß. Ich haben auch gefunden, daß andere ehemalige Mitglieder der fraglichen Gruppe als Informanten des pastoralen Beraters sowie auch als Mit-Berater sehr hilfreich sein können.

2. Wenn man eine vertrauensvolle und vertrauenswürdige Beziehung zu der wiederherzu-stellenden Person aufbaut, ist es hilfreich, die religiösen Erfahrungen und Traditionen der Kind-heit dieser Person zu untersuchen. Das hilft, abzuschätzen, auf wieviel Substanz man eventuell bauen kann oder wie wenig Fundament vorhanden ist. Warum warf die Person die Glaubens-traditionen der Kindheit über Bord ? Ist eine Rückkehr zu dieser Glaubenstradition eine heilsame und gesunde neue Richtung ?

3. Es ist sehr wichtig, die spirituellen Bedürfnisse zu identifizieren und zu benennen, die zum Eintritt dieser Person in den Kult beigetragen haben mögen. War es das Bedürfnis unbe-dingter Annahme, oder der Wunsch, sich an der messianischen Schneide von Gottes transfor-mierender Aktivität zu befinden, oder in das göttliche Elitekorps aufgenommen zu werden, oder die Entlarvung der Heuchelei der älteren Generation ? Alle persönlichen Bedürfnisse sind wichtig. Viele verdienen unsere Bekräftigung.

4. Nachdem man die ungerechtfertigten Wege identifiziert hat, auf welchen der Kult diese spirituellen Bedürfnisse zu erfüllen versuchte, muß man neue Möglichkeiten und Optionen eröffnen, durch welche diese spirituellen Bedürfnisse befriedigt werden können. Dies kann durch Hinweise auf religiöse Organisationen geschehen, deren lehrmäßige Prioritäten, Gottes-dienstformen und Anweisungen für den Lebensstil bessere Möglichkeiten zur Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse bieten, auch wenn der seelsorgliche Berater sie nicht für sich selbst wünschen würde.

5. Statt der naheliegenden Erklärung, die in Wiederherstellung begriffene Person habe während ihrer Kultzugehörigkeit eine völlig destruktive Periode verbracht, tut ein seelsorglicher Berater gut daran, auf die positiven Aspekte der Kulterfahrung hinzuweisen. Wenn Gott alles zum Guten wendet, wo ist das Gute in der Kultperiode dieser Person zu finden ?

6. Was muß von einer Person getan werden, um sich in den eigenen Augen und auch in den Augen der Freunde, Verwandten und anderer wiederherzustellen, die vielleicht durch diese Person während ihrer Kultzugehörigkeit mißbraucht oder beleidigt wurden ? Oft gibt es im Prozeß der Wiederversöhnung sehr spezielle Schritte.

Aus: Recovery from Cults, herausgegeben von Michael D. Langone, Ph.D., W.W. Norton & Co, New York, London, 1993. Übersetzung: Friedrich Griess

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