Kapitel 10

Paul R. Martin, Ph.D. :

Nachkultische Wiederherstellung: Bewertung und Rehabilitation

In diesem Kapitel beschreibe ich meine klinischen Beobachtungen bezüglich der Probleme, auf welche frühere Kultmitglieder während ihres Erholungsprozesses stoßen, diskutiere die Bewertungsverfahren, welche ich im Wellspring Retreat and Resource Center, einem stationären Rehabilitationszentrum für ehemalige Kultanhänger, benütze, und beschreibe in Kürze das Behandlungsprogramm von Wellspring. Wir haben hauptsächlich Erfahrungen mit Mitgliedern christlicher Randkirchen gesammelt, daher mögen meine Erfahrungen mehr diese Gruppen als andere betreffen.

Mythen

Zuerst möchte ich jedoch von allgemein verbreitete Mythen über Kulterfahrungen sprechen (Martin, 1989). Einige dieser Mythen kann man bei Leuten aller Glaubensrichtungen finden; andere werden meist nur von Christen vertreten. Diese Mythen werden in Fragen oder Behauptungen wie den folgenden ausgedrückt:

o "Warum bist du nicht einfach weggegangen ?"

o "Ich könnte mir sicher einige andere Leute vorstellen, die einem Kult beitreten würden, aber gerade du wärest der letzte gewesen, von dem ich das erwartet hätte!"

o "Warum einen Psychologen aufsuchen ? Du weißt, daß du in deiner geistlichen Wanderung mit Gott betrogen wurdest. Du muß deine Sünden bereuen, so daß dich der Versucher nicht mehr verführen kann."

o "Ich weiß nicht, warum du dich so beklagst; deine Gruppe war ja kein Kult. Warum denn, sie predigen ja das Evangelium. Vielleicht bist du nur verbittert und solltest dein Herz wieder Gott zuwenden."

o "Vielleicht hatte dein Führer recht - du hast dich nicht genug eingesetzt und dein Austritt war nur einen Entschuldigung dafür, daß du dein Herz nicht völlig Gott übergeben hast. Du benützt deine Rebellion gegen die Autorität ganz allgemein als eine Entschuldigung dafür, die Gruppe zu kritisieren. Entferne zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge."

o "Es war meine Erfahrung, daß Leute, welche sich dieser Gruppe anschließen, Probleme haben oder aus zerrütteten Familien kamen. Ich wußte nicht, daß du vorher Probleme hattest, aber vermutlich irrte ich mich."

o " Ich verstehe nicht, warum du nicht in der Bibel liest - schließlich ist das Wort die Wahrheit, und diese wird helfen, dich zu heilen. Du mußt in die Gemeinschaft zurückkehren: die Leute in der Kirche werden anfangen, sich über dich zu wundern.

o "Weißt du, du bist im Bibelstudium und im Gebet während deines Aufenthaltes im College lau geworden. Ich bin sicher, hättest du diese beiden wesentlichen Dinge während deiner Zugehörigkeit zur Gruppe beibehalten, du wärest nicht so enttäuscht worden und wärest nicht in der Verfassung, in der du dich jetzt befindest."

Wenn ehemalige Kultmitglieder irgendeine dieser Behauptungen hören, so hören sie Botschaften, die sagen: "Mit dir stimmt etwas nicht," " du mußt psychologische Probleme haben," "vielleicht ist dein spirituelles Leben nicht das , wofür du es gehalten hast," "vielleicht bist du nicht unterwürfig und sogar rebellisch." Wenn das ehemalige Mitglied diese verdrehten Mitteilungen hört und glaubt, dann ist Erholung unmöglich, bis die falschen Nachrichten erledigt sind. ( Viele dieser Leute haben bereits endlose Stunden damit verbracht, ihr Sünden nutzlos zu bereuen und zu bekennen. Es ist jetzt nicht Zeit, mehr davon vorzuschreiben).

Jeder kann in einen Kult verwickelt werden, unabhängig von seinem spirituellen oder psychologischen Zustand. Kulte nützen die Schwachen ebenso aus wie die Starken, die Idealisten und jene, die nach einem Grund fragen. Kulte nützen schon bestehende Probleme aus und machen sie noch schlimmer. Jemandem die Schuld dafür zu geben, daß er in einem Kult ist, ist dasselbe, wie wenn man einem kleinen Kind die Schuld gibt, wenn es niederfällt, einem Opfer, daß es vergewaltigt wurde, oder jemandem, der an einer schrecklichen Krankheit leidet.

Die Stadien der Wiederherstellung

Das erste, was Eltern oder Freunde tun sollten, wenn ein Angehöriger von einem Kult heimkommt, sind medizinische oder ernährungsmäßige Maßnahmen, um sicherzustellen, daß das ehemalige Kultmitglied körperlich gesund ist. Sie sollten auch beurteilen, in welchem Stadium der Wiederherstellung sich die betreffende Person befindet, denn ehemalige Kultmitglieder können ganz verschiedene Bedürfnisse haben, je nachdem in welchem Stadium sie sich befinden. In Wellspring haben wir beobachtet, daß die Leute gewöhnlich durch drei Stadien der Wiederherstellung gehen, nachdem sie einen Kult verlassen haben:

(1) Entwicklung eines Bezugssystems; (2) Trauer, Versöhnung und Blick auf die Zukunft, und (3) Wiedereingliederung in die Gesellschaft.

Stadium eins: Entwicklung eines Bezugssystems

Das Ziel des ersten Stadiums ist Information und Selbstannahme. Eine gründliche Betrachtung der betreffenden Gruppe und der Techniken der psychischen Manipulation, wie sie von Kulten benützt wird, gehören dazu. Zugleich ist es wichtig, an den Verlust der Nähe und Kameradschaft zu denken, den das ehemalige Mitglied beim Verlassen der Gruppe erfährt.

Möglicher Bedarf für Ausstiegsberatung Wenn die ehemaligen Mitglieder noch beträchtliche Verwirrung über ihre Kulterfahrung zeigen, wenn sie die Neigung haben, sich selbst zu beschuldigen, wenn sie die manipulativen Techniken, denen sie erlagen, nicht erkennen, und wenn sie nicht verstehen oder leugnen, daß sie zu Opfern wurden, dann kann Ausstiegsberatung vielleicht für sie nützlich sein, selbst wenn sie schon lange Zeit aus dem Kult heraußen sind. In der Tat haben Leute, die Kulte vor mehr als 10 Jahren verließen, Ausstiegsberatung in Anspruch genommen.

Die Ausstiegsberatung kann beim Betreffenden daheim durch einen Ausstiegsberater vorgenommen werden (siehe Kapitel 8). Sie kann in einem stationären Rehabilitationszentrum erfolgen, wie es in diesem Kapitel später beschrieben wird, oder sie kann in unsystematischer Weise erfolgen, indem man z.B. über Kulte liest, mit ehemaligen Kultmitgliedern spricht, Seminare besucht, usw.; die zuletzt erwähnte Methode wird benützt, wenn es heißt. "Er erteilte sich selbst die Ausstiegsberatung".

Klarerweise ist, wenn immer möglich, eine formale, systematische Ausstiegsberatung vorzuziehen. Ausstiegsberatung gibt ehemaligen Kultmitgliedern ein Bezugssystem, mit dem sie die nachkultischen Probleme verstehen, und es erleichtert daher den Erholungsprozeß.

Erkennen der Wichtigkeit von Beziehungen Kulte verführen Leute hauptsächlich durch die Beziehungen, welche die Kulterfahrung anbietet. Engagement in einem Kult ist eine intensive persönliche Erfahrung. Die Wiederherstellung muß daher intensiv und persönlich sein. Therapeuten, Berater, Priester und Eltern müssen in der Lage sein, den emotionellen Bedürfnissen des ehemaligen Kultmitgliedes für Angenommensein, Zugehörigkeit, Freundschaft und Liebe zu entsprechen. Engagement in einem Kult kann ernste psychologische Probleme hervorrufen, obwohl nicht alle Probleme ehemaliger Kultmitglieder auf den Kult zurückzuführen sein müssen. Priestern wird empfohlen, Beratung bezüglich psychischer Gesundheit beizuziehen, wenn sie diese Leute behandeln wollen.

Harold Bussell bemerkt, daß er selten einen Evangelikalen sah, der einer kultischen Gruppe aus lehrmäßigen Gründen beitrat. Die Faktoren, die seiner Meinung nach eine Gruppe attraktiv machen, ist die Betonung "der Gemeinsamkeit.......der Gemeinschaft und Sorge füreinander" (1985, Seiten 11 - 113).

Beurteilung der Gruppe Der erste Schritt bei der Arbeit mit einem ehemaligen Kultmitglied ist einen vernünftige intellektuelle und theologische (oder philosophische) Beurteilung der Lehre der Gruppe.

An zweiter Stelle steht die Beurteilung ihrer Ethik - z.B. des Gebrauches von Geld, ihrer Methode der Gedankenreform und ihrer Praxis der Täuschung - alles muß sorgfältig geprüft werden. Eltern (oder Freunde) können für Ausstiegsberater oder Psychiater sehr nützlich sein, indem sie Informationen über den betreffenden Kult beisteuern. Umgekehrt kann der Ausstiegsberater Informationen über die Gruppe haben, von denen die Eltern nichts wissen.

Drittens muß die Ethik und die Theologie der Gruppe im Zusammenhang mit den psychologischen Bedürfnissen des Betreffenden untersucht werden. Dieser dritte Schritt der Beurteilung der Gruppe ähnelt dem Konzept der Übereinstimmung oder Ursprünglichkeit von Carl Rogers, das darin besteht, daß jemand "frei und zutiefst er selbst ist" oder "daß zwischen der aktuellen Selbsterfahrung des Organismus und dem Selbstbild des Betreffenden insofern kein Widerspruch besteht, als dieses Selbstbild die Selbsterfahrung darstellt" (Rogers, 1992, Seite 828). In der besonderen Behandlungssituation muß sich die Therapie auf die speziellen Bedürfnisse und die Verletzlichkeit des ehemaligen Kultmitgliedes konzentrieren und diesem zeigen, wie seine Bedürfnisse durch den Kult ausgenützt wurden. Z. B. rühmen sich viele Kulte ihres Konzeptes der Perfektion oder, der Beste zu sein. Viele Patienten treten einer Kultgruppe vielleicht mit hoher Auffassung von Perfektionismus bei und wollen die Besten unter den Besten sein. Für den Therapeuten ist es dann wichtig zu sehen, wie der Kult diese Auffassung ausbeutete, sodaß die Erfahrung darin integriert wird, wer der Betreffende vor seinem Beitritt zum Kult war und wie der Kult diese essentielle Auffassung ausbeutete oder veränderte. Bei diesem dritten Schritt ist es wesentlich, dem Patienten zu sagen, daß alle Kultmitglieder hohe Auffassungen und besondere Bedürfnisse haben, aus denen der Kult Vorteile zog. Patienten müssen verstehen, daß die Rekrutierung zum Kult nicht deshalb erfolgte, weil sie in besonderer Weise verwundbar waren, sondern daß vielmehr jeder Mensch eine Anzahl Faktoren mit sich trägt, welche ein Kult ausbeuten kann.

Wiedergewinnung der Gemeinschaft und Erkenntnis des Kult-Prozesses Bei der Erholung von der Kulterfahrung benötigt die Frage der schmerzenden Suche nach Liebe, Gemeinschaft und Fürsorge, die man in der Gruppe erfahren hatte, typischerweise am längsten zu seiner Lösung. Es ist äußerst wichtig, eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Der Helfer muß hart arbeiten. Sullivan (1984) fand, daß nur etwa die Hälfte der ehemaligen Kultmitglieder, welche Hilfe suchten, in der Lage waren, sich in eine erfolgreiche Arbeitsbeziehung mit dem Berater einzulassen. Berater oder Priester (besonders dann, wenn sie durch andere Kirchenmitglieder unterstützt werden) müssen Wärme und Fürsorge bieten, aber sie sollten sich hüten, ein Ersatz oder eine Imitation des sozialen "Hochs" zu werden, welches das ehemalige Mitglied in der Gruppe erfuhr. Die gewaltige Gemeinschaft und Wärme, nach der das ehemalige Mitglied verlangt, ist oft ein künstliches Hoch. Ja, das Gefühl der Gruppenerfahrung war großartig, aber war es auch wahr und wurde es immer durch ursprüngliche Liebe und Annahme bewirkt, oder war es in Wirklichkeit eher wie das Gefühl der Euphorie, die durch manche Drogen bewirkt wird?

Es gibt viele Gruppenprozesse, welche in den Leuten ein wunderbares, sogar euphorisches Gefühl hervorrufen. Es muß auch bemerkt werden, daß diese Prozesse oder euphorischen Gefühle nicht nur durch Kulte oder Randkirchen bewirkt werden können. Es ist für das sich erholende ehemalige Mitglied unangenehm, verstehen zu lernen, daß solche Prozesse nicht nur in seiner Gruppe vorkommen. Moonies haben mir über ihre gewaltigen Gefühle von Hingerissensein, Liebe und Wärme erzählt, die sie bei manchen ihrer Gottesdienste erfahren haben. Mitglieder von The Way International haben mir erzählt, wie sehr sie die Gegenwart Gottes bei manchen ihrer Konferenzen spürten. Ehemalige Mitglieder von Great Commission International sehnen sich nach der "Gemeinschaft" und den Gefühlen, welche sie in der Gruppe erfuhren. Ehemalige Mitglieder von Randkirchen sagen, wie gut sie sich nach einem ihrer Gottesdienste fühlten, welche später nach ihrem Leiter die "Carl Stevens-Show" genannt wurden, oder nannten sie einen "Buzz". Eine Frau, die ich beriet, ging weiterhin zu einer charismatischen Sekte, sogar nachdem diese fast ihre Familie zerstört hatte. Sie gab zu, daß die Leute dort geschickt viele Techniken benützten, um Schuldgefühle zu erzeugen und sie sogar von ihrer Familie zu entfremden; und doch mußte sie zu den Gottesdiensten gehen, denn sie "fühlte sich so gut", wenn sie dortgewesen war.

Übereinstimmend erklären frühere Drogenabhängige, welche später kultischen Gruppen beitraten, die Erfahrungen dort als "high" oder "High-Werden". In einem anderen ähnlichen Beispiel kehrte eine meiner christlichen Freundinnen von einem buddhistischen Treffen zurück und berichtete, wie sie durch die Zeugnisse und den Gesang der Gruppe bewegt wurde. Sie wurde von dieser Erfahrung völlig eingefangen und fühlte sich besonders hingezogen.

Die Überwindung der Sucht, solche Erfahrungen zu wiederholen, kann für ehemalige Kultmitglieder eines der schwierigsten Probleme werden. Sie haben gelernt, ein Gefühl zu lieben, und sie versuchen, dieses Gefühl außerhalb des Kultes zu finden. Gerade wie der Drogensüchtige bleiben sie bei der Meinung, es gäbe in der Welt kein größeres Gefühl. Aber sehen wir uns die Ergebnisse der Drogensucht an - eine höchst bedauernswerte Situation, die Leben, Gesundheit, Karrieren zerstört und oft tötet. Ein ähnlicher Prozeß, welcher zur Zerstörung führt, findet sich bei den Kultanhängern, die alles zu opfern bereit sind, weil sie offenbar dieses "Gefühl" anderswo einfach nicht finden können.

Während das Gruppenmitglied in einem "Hoch" war, mag es unbewußt emotionelle Schmerzen, Zweifel oder Alarmzeichen, daß seine Gesundheit vernachlässigt wurde, unterdrückt oder dissoziiert haben. Solche "Hochs" (die es sicher nicht nur im religiösen Bereich gibt) können psychologisch oder spirituell ungesund sein (Ash, 1984; Martin, 1989). Meistens bringt diese Kulterfahrung ein starkes Gefühl der Abhängigkeit von der Gruppe und ihrem Führer hervor. Deswegen müssen Helfer sehr darauf achten, daß sie keine Abhängigkeit von sich selbst oder von anderen Gruppenprozessen erzeugen. Abhängigkeitskonflikte sind typischerweise ein großes Problem für ehemalige Mitglieder. Gute Rehabilitation und Therapie wird versuchen, von Abhängigkeiten weg zu Unterstützung durch die Gruppe und zu gesunden Beziehungen zu führen

Das Erkennen des "Floating" "Floating" in Bezug auf Kulte bedeutet veränderte Bewußtseinszustände, d.h. Zustände zwischen Wachen und Schlaf, "Zustände, die sich von jenen unterscheiden, die wir gewöhnlich in der alltäglichen Realität erfahren. Darin inbegriffen sind Zustände wie die durch kreative Arbeit, Meditation, Drogen, Schlaf, Alkohol und Hypnose erzeugten" ( Pollio, 1882. Seite 240). Wenn ein ehemaliges Mitglied in das Hoch zurückfällt, nachdem es den Kult verlassen hat, nennt man das "floating". Wenn es in die schamerfüllten Motivationen zurückkippt, die es im Kult erfahren hat, und wieder glaubt, der Kult habe recht gehabt, dann nennt man auch das "floating". Floating-Perioden werden durch die Entdeckung dessen, was sie auslöst, sowie durch einige realitätsbezogene vernünftige Übungen überwunden. In Kapitel 16 gibt Madeleine Tobias Ratschläge, wie man mit Auslösern umgeht.

Das Verstehen des Traumas Beim Versuch, zu verstehen, was dem ehemaligen Kultmitglied zugestoßen ist, ist es oft hilfreich, das Opfer- oder Trauma-Modell anzuwenden. Diesem Modell zufolge sind das Zum-Opfer-Werden und die daraus folgenden Qualen eine Folge der Erschütterung von drei grundlegenden Annahmne, welche das Opfer über die Welt und sich selbst hatte. Diese Annahmen sind: "der Glaube an persönliche Unverwundbarkeit,

die Wahrnehmung der Welt als sinnvoll und die Wahrnehmung seiner selbst als positiv" (Janoff-Bulman, 1985, Seite 15). Das ehemalige Mitglied wurde traumatisiert, betrogen, hereingelegt, benützt, und oft emotionell, physisch, sexuell und geistig mißbraucht, als es der Gruppe und/oder ihrem Leiter diente. Wie andere Traumaopfer ( z.B. von kriminellen Akten, Kriegsgreueln, Vergewaltigung und schwerer Krankheit) machen ehemalige Kultmitglieder oft die schmerzlichen Erinnerungen an ihr Engagement in der Gruppe immer wieder durch. Sie verlieren auch das Interesse an der äußeren Welt, fühlen sich von der Gesellschaft abgesondert und zeigen unter Umständen wenig Gefühle (Janoff-Bulman, 1985, S. 16,17).

Gedankenreform Ehemalige Kultmitglieder in Stadium eins ihres Wiederherstellungsprozesses müssen genau verstehen, wie sie unter den Einfluß eines Gedankenreformsystemes geraten sind. Die Arbeit von Lifton (1961, 1987) war für ehemalige Kultmitglieder besonders nützlich. Geri-Ann Galanti diskutiert in Kapitel 3 Lifton's Kriterien eines Gedankenreformprogrammes.

Ich möchte Galanti's Formulierungen dadurch ergänzen, daß ich Lifton's acht Punkte dahingehend diskutiere, wie sie zu einer Behinderung der Beziehungen des Mitgliedes zur Welt, zu sich selbst und zum Kult beitragen

Kulte verändern die Grenzen zwischen dem Mitglied und der Welt, indem sie im Wesentlichen eine psychologische Wand errichten. Offensichtlich ist Lifton's Milieukontrolle der wichtigste Faktor zur Behinderung der Beziehungen des Kultmitgliedes zur Außenwelt, aber die mystische Manipulation und die geheiligte Wissenschaft tragen auch wesentlich dazu bei. Die Euphorie, welche durch mystische Manipulation erzeugt wird - z.B. durch Chanten, Zungenreden, usw. - bewirkt die Überzeugung, daß die Gruppe sich von der Außenwelt radikal unterscheidet. Dieser Unterschied wird natürlich positiv interpretiert. z.B. als "die Gegenwart Gottes", "der Hauch des Heiligen Geistes", " das Zeichen der Gegenwart Gottes", "Bewußtsein der Seligkeit" oder "innere Erleuchtung". Sie zweifeln, ob dieses Gefühl außerhalb der Gruppe zu finden ist. In ähnlicher Weise betont die geheiligte Wissenschaft die besondere Qualität der Gruppe. Kulte haben für möglicherweise alles eine Antwort. Und es gibt keine Wahrheit außerhalb ihrer "Wissenschaft", oder es gibt zumindest keine erfüllende Wahrheit außerhalb der Gruppe. Das Ergebnis ist, daß Kultmitglieder zu zweifeln beginnen, ob es außerhalb der Gruppe Wahrheit gibt, und daher richten sie ihre eigene interne Zensur für Information von außen ein.

Kulte verändern die Beziehungen der Mitglieder zu sich selbst durch den Vorrang der Lehre vor dem Menschen, zufolge welcher die Doktrin der Gruppe vor der Persönlichkeit, den Interessen und der Gesundheit des Mitgliedes Vorrang hat - vor möglicherweise allem. So definieren Kulte Sünde sehr weit und menschliche Natur sehr eng. Dies tendiert dazu, die Mitglieder von sich selbst zu entfremden. Z.B. lehren manche Kulte, daß ein Künstler oder Musiker zu sein bedeute, Gottes "Zweitbestes" zu wählen. Künstlerisch begabte Menschen werden dadurch veranlaßt, sich ungeistig, unreif, sündhaft und aufrührerisch zu fühlen. Yeakley's (1988) Forschungen bezüglich des Druckes, sich einem bestimmten Persönlichkeitsprofil anzupassen (siehe Kapitel 1), stimmen mit der Ansicht überein, daß Kulte eine Entfremdung von sich selbst bewirken.

Die Manipulation der Sprache ist die Kehrseite des Vorranges der Lehre vor dem Menschen. Mit anderen Worten, der Vorrang der Lehre vor dem Menschen quetscht die Persönlichkeit des Menschen zusammen. Normalerweise kämpft die menschliche Natur gegen solche Verengungen und versucht, ihren ursprünglichen Platz wieder einzunehmen. Hier blockiert die Manipulation der Sprache diese normale Rückkehr, indem sie in das Bewußtsein des Kultmitgliedes solche Gedankenstopp-Phrasen einpflanzt wie "Deine Frage stammt vom Satan" oder "Dein Verlangen nach Kunst ist mittelklassige Dekadenz". So werden die Praxis des Vorranges der Lehre vor dem Menschen und die Manipulation der Sprache kombiniert, um die Grenzen zwischen der vorkultischen und der kultischen Persönlichkeit zu verschieben.

Kulte manipulieren und verändern die Beziehungen ihrer Mitglieder zum Kult durch die Forderung nach Reinheit, den Kult des Sündenbekenntnisses und die Zu- oder Aberkennung der Existenzberechtigung. Nachdem die "Flitterwochen" der Werbung vorüber sind, wirken diese Faktoren zusammen, um die Abhängigkeit des Kultmitgliedes von der Gruppe beträchtlich zu erhöhen. Der Kult des Geständnisses ermöglicht es der Gruppe, die Schwachstellen des Mitgliedes zu erfahren, und liefert Munition für zukünftige Aktionen. Die Forderung nach Reinheit bedeutet, daß sich die Mitglieder dauernd als unzureichend fühlen werden. Sie hält sie in einem ständigen Zyklus des "noch härter Probierens" und doch nie das erforderliche Ziel Erreichens. Das Ergebnis dieser Praxis des Sündenbekenntnisses und der Reinheit ist eine beträchtliche Einschränkung der vielen Verhaltensmöglichkeiten, in denen sich Leute normalerweise ausdrücken dürfen. Daher bedeuten sie eine Verhaltensbeschränkung oder -grenze auch für das Kultmitglied.

Der kombinierte Effekt der Milieukontrolle, des Vorranges der Lehre vor dem Menschen und dem Kult des Sündenbekenntnisses lassen nun das Konzept der Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung in lebhafter und erschreckender Vision erscheinen. Kultanhänger, welche ihr Vertrauen auf die Außenwelt und auch das Vertrauen auf sich selbst verloren haben und die nun verstehen, daß sie durch den Prozeß und die Lehren des Kultes umgewandelt werden müssen, sind mit einer erschreckenden Perspektive bezüglich der Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung konfrontiert. Denn wenn man nun einmal die Außenwelt verloren hat, im Glauben, sie sei ein Übel, und ebenso den Glauben an sich selbst, den man ebenso für ein Übel oder für "Bourgeoisie" hält, dann bedeutet die Vorstellung von einem Verlust der Zugehörigkeit zum Kult den Umstand der völligen Vernichtung seiner selbst.

Die Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung steigert die Angst der Mitglieder, denn ihre oft verborgenen Gefühle der Unzulänglichkeit machen sie dafür anfällig, als unwürdig beurteilt zu werden. Da sie indoktriniert wurden zu glauben, daß eine Zurückweisung durch den Kult ihrer persönlichen Vernichtung gleichkäme, werden Mitglieder offenbar alles tun, was sie können, um eine gute Stellung innerhalb des Kultes zu behalten.

Das Gedankenreformprogramm verändert die Beziehungen der Kultmitglieder zu sich selbst, zum Kult und zur Außenwelt. Diese Beziehungen werden beschränkt, weil die Gedankenreform auf jedem dieser Gebiete neue Grenzen setzt.

Wenn ehemalige Kultmitglieder das Gedankenreformprogramm nicht verstehen, dann werden sie nicht in der Lage sein, ihre Gefühlsverwirrung aufzulösen - Reue, Furcht, Scham, Trauer und Angst. Sie werden nicht erfassen, in welchem Maß diese Gefühle von einer Beschränkung ihrer Beziehungen zu sich selbst, zur Außenwelt und zum Kult herrühren.

Wenn Kultmitglieder das Gedankenreformprogramm verstehen, dann werden in ihnen zwei mächtige und grundlegende Gefühle entstehen: die Freude, frei zu sein, und der Zorn darüber, verletzt worden zu sein. Das erste Gefühl bestätigt ihre Identität als freie und unabhängige Individuen; das zweite bekräftigt ihren Sinn für Recht und Unrecht. Es ist wichtig, daß moralische Ausrutscher ehemaliger Mitglieder nicht als pathologisch betrachtet werden. Man hat ihnen Schaden zugefügt. Sie wurden dazu gebracht, sich hilflos zu fühlen. Ihr ehemaliger Sinn für Recht und Unrecht - eines der zentralsten Elemente der menschlichen Identität - wurde auf den Kopf gestellt. Zorn bestärkt die geschwächten Überreste ihres moralischen Selbst gegen die nachklingende Macht des kultischen Übels.

Die Freude, frei zu sein, und der Zorn, der damit aufkommt, wenn man versteht, was geschah, dienen zur Reinigung des menschlichen Geistes. Diesen Gefühlen muß man ihren Lauf lassen. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Wiederherstellung zum nachkultischen Leben. Der Betreffende befindet sich im Stadium zwei.

Stadium zwei: Trauer, Versöhnung und Blick auf die Zukunft

Im Stadium zwei wird der ehemalige Kultanhänger sich mit einigen oder allen der folgenden Gedanken und Fragen befasse:

"Ich bin traurig, daß meine Freunde noch in der Gruppe sind."

"Ich kann nicht glauben, daß mir das zustieß."

"Ich habe so viel Zeit verloren."

"Kann ich eine gültige Spiritualität wiederfinden?"

"Was kann ich bezüglich Gott glauben?"

"Wie konnte ich so dumm sein?"

Stadium zwei ist auch der Beginn der Trauerarbeit. Trauernde Menschen benötigen Verständnis. Es muß ihnen gestattet sein, zu sprechen und zu fühlen.

Wiedergewinnung des Lebenssinnes In diesem Stadium muß die Wiederherstellung sich darauf konzentrieren, den Leuten zu helfen, eine positivere Ansicht über die Welt und über sich selbst zu gewinnen. Die meisten Streßsymptome können dem fehlenden Glauben des Opfers an eine sinnvolle Welt zugeordnet werden, in der sie sich selbst positiv und einigermaßen unverwundbar sahen. Die Kulterfahrung ist oft eine Krise des Glaubens. Viele ehemalige Kultmitglieder sagen zu sich selbst: "Wie konnte Gott zulassen, daß mir das zustieß?" oder "Ich komme mir wie ein Narr vor". Ihr Glaube an eine gerechte Welt ist erschüttert. Sie können nun nicht mehr sagen: "Das könnte mir nicht passieren."

Die Frage nach dem Sinn steht bei Kultaussteigern an erster Stelle. Opfern muß geholfen werden, daß sie den Glauben an sich selbst und an eine Welt, die Platz dafür hat, daß guten Leuten Schlechtes zustößt, wiedergewinnen. Es kann auch notwendig sein, daß sie sich aussprechen und das Trauma immer wieder erleben, wie es bei Opfern anderer Art von Krisen der Fall ist (Horowitz, 1990). Traurigerweise wird dieser Prozeß des Sprechens über das Trauma manchmal durch wohlmeinende Leute kurzgeschlossen, welche solches Wiederkäuen als unerbaulich oder zu sehr auf die Vergangenheit gerichtet betrachten.

Effektive Therapie muß sehr unterstützend und bestärkend sein, da die notwendige Selbstachtung wieder aufgebaut werden muß. Die Opfer müssen von der Ansicht befreit werden, daß sie gewissermaßen allein für ihr Desaster verantwortlich waren. Sie müssen dazu befähigt werden, sich selbst zu vergeben. Diese Aufgabe ist besonders für jene problematisch, die sehr an eine Version des "Wohlergehens-Evangeliums" geglaubt hatten. (Das Wohlergehens-Evangelium vertritt die Überzeugung, daß ein gläubiger Mensch, der genug Glauben hat, seine Sünden vollständig bereut und mindestens 10 % seiner Einkünfte der Kirche oder einem christlichen Dienst schenkt, sich dafür guter Gesundheit und finanziellen Wohlstandes und allgemeinen Wohlergehens auf allen Lebensgebieten erfreuen kann). Sinnhaftigkeit und Vertrauen müssen wiedergewonnen werden. Diejenigen, welche einen religiösen Kult verlassen, ist es beim theologischer Wiederaufbau oft am hilfreichsten, wenn sie die Ereignisse angesichts eines gütigen Gottes betrachten können, der sie wahrhaft liebt (siehe auch Kapitel 16).

Die Notwendigkeit der Versöhnung. Zeitweise mag das ehemalige Kultmitglied erkennen, daß seine Worte oder Handlungen während der Kultzugehörigkeit andere beleidigten. Es ist sehr heilsam, zu diesen anderen zu gehen und um Versöhnung zu bitten. Obwohl sich der Beleidiger dessen voll bewußt ist, daß es nicht immer seine Absicht war, zu verletzen, erkennt er jetzt, daß seine Worte oder Handlungen für andere schmerzlich gewesen sein könnten (Ein Wort der Vorsicht an das ehemalige Mitglied: Begehe nicht den Fehler, das, was du nach dem Verlassen des Kultes gelernt hast, in die Zeit deiner Kultzugehörigkeit zurückzuprojizieren - das ist eine sichere Methode für unverdiente Schuldzuweisung! Wenn man einmal etwas über Kultdynamik und Rekrutierungstechniken erfahren hat, ist es kontraproduktiv, dieses Wissen rückwirkend anzuwenden - z.B. sich zu sagen "Ich hätte das wissen müssen" oder "Ich hätte es kommen sehen sollen".)

Die Suche nach Information. Fast immer haben ehemalige Kultmitglieder, welche das Stadium zwei der Wiederherstellung erreicht haben, eine Menge Fragen über die Besonderheiten ihrer Gruppe, über die Bibel (wenn es eine auf der Bibel gegründete Gruppe war), über Religion oder über andere philosophische Meinungen. Diese Fragen müssen gut durchdacht beantwortet und gründlich diskutiert werden. Helfer sollten sich vor den Fehlern hüten, die man in der Arbeit mit früheren Kultmitgliedern leicht begeht.

Priester, die mit ehemaligen Kultmitgliedern arbeiten, sollten wissen, daß die Chancen für den Erfolg und die Schnelligkeit der Wiederherstellung davon abhängen können, wie ähnlich der Stil ihrer Kirche und der des Priesters selbst dem der extremistischen Gruppe sind. Wenn es hierbei eine deutliche Ähnlichkeit gibt, dann wird die Wahrscheinlichkeit groß sein, daß dieser Stil traumatische Erinnerungen hervorrufen wird. Daher sollte das ehemalige Mitglied ernstlich erwägen, eine andere Bibelübersetzung zu kaufen und einen Priester zu finden, der sich in Persönlichkeit und Lehrstil vom ehemaligen Führer unterscheidet, sowie eine Kirche oder Gemeinschaft zu finden, die einen willkommenen Unterschied zum kultischen Milieu bietet. Allzuoft steigen ehemalige Kultmitglieder aus nichtkultischen Kirchen wieder aus, weil sie diese zu sehr an die ehemalige Gruppe erinnern. Tragischerweise werden diese Leute manchmal eher als "Rückfällige" denn als Opfer betrachtet.

Der Bedarf an Unterstützung. Unterstützungsgruppen oder professionelle Beratung kann beträchtlich zur nachkultischen Wiederherstellung beitragen, wenn den ehemaligen Mitgliedern Strategien und Fertigkeiten beigebracht werden, welche sie davor bewahren, in Zukunft wieder zu Opfern zu werden. Sie werden dadurch einen Sinn für persönliche Stärke und Selbstachtung erlangen.

So wie bei anderen Opfern ist das Bekanntwerden und Sprechen mit anderen ehemaligen Mitgliedern (vorzugsweise mit solchen aus der selben Gruppe) ein wesentlicher Schritt zur Wiederherstellung. Oft werden durch diesen Prozeß frühere Mitglieder enge Freunde. Ihre Erfahrung ist ähnlich der von "Kriegskumpeln", oder von Mitgliedern der Unterstützungsgruppen für Opfer von Alkoholmißbrauch, Ehescheidung, Krebs oder dgl.

Wiederentdeckung des Evangeliums. Für die, welche aus häretischen christlichen Gruppen kommen, ist es wesentlich, das Neue Testament wieder zu entdecken. Alle häretischen christlichen Kulte entstellen bestimmte Aspekte des Evangeliums. Diese Gruppen, vor allem jene, welche laut verkünden, sei seien die "wahren" Christen, haben die Tendenz, "christlich" viel zu eng zu definieren. Was macht einen Christen aus ? Definitionsgemäß anerkennen, bekennen und verkünden christliche Gruppen das Evangelium von Jesus Christus. Es sind Gruppen, welche sich zu den wichtigsten Glaubensüberzeugungen der Kirche bekennen und an die Autorität der Bibel glauben. In kultischen Gruppen jedoch fehlt etwas in Bezug auf die Erkenntnis, das Bekenntnis und die Darstellung des Evangeliums, wie z.B. seine klaren Lehren über sexuelles Verhalten.

Vor kurzem hatten wir in Wellspring zwei junge Frauen aus zwei verschiedenen Sekten. Der Leiter der einen Gruppe rechtfertigte sich, daß Sex mit einigen Frauen seiner Kirche erlaubt sei, denn "Gottes Güte ist so groß, daß er alles vergeben kann". Unter dieser Flagge hatte er oralen Sex, Gruppenmasturbation, Gruppensex und individuellem Geschlechtsverkehr mit den Frauen, denn "Gottes Güte ist so groß". Dieser Pastor sprach auch mit den Frauen und Mädchen darüber, wie sehr besonders sie seien. Unter Benützung der Flagge der Christlichkeit und des Evangeliums ließ sich dieser Pastor auf die wildesten Formen sexueller Ausschreitung ein.

Die andere Sekte lehre eine Version des Evangeliums, welche die "Abtötung des Fleisches" betonte. Für sie diente das Evangelium dazu, zu zeigen, wie Jesus "sein Fleisch tötete", und jeder Christ hatte das selbe zu tun, um gerettet zu werden. Rettung bedeutete für sie die Nachahmung Christi als der vollkommene Mensch. Christus sollte das Beispiel sein. Außerdem hatte die junge Frau, welche in dieser Sekte gewesen war, geglaubt, alle anderen Bekenntnisse seien "ohne die Grundlage der Schrift". Infolgedessen gäbe es außerhalb dieser kleinen Gruppe keine Rettung. Diese zweite Gruppe nahm in Bezug auf die Sünde die entgegengesetzte Haltung ein. Alles außer Gebet, Bibelstudium, Evangelisierung und die Teilnahme an Kirchenversammlungen mußte sehr sorgfältig geprüft werden, bevor es erlaubt werden konnte.

Was hier Verwirrung schafft, ist der Umstand, daß bei vielen dieser kultischen Gruppen die äußere Fassade und die öffentlich zur Schau gestellte Glaubensüberzeugung sehr vernünftig aussehen. Vieles an der Entstellung ereignet sich oft in der Kommunikation, die im inneren Kreis vor sich geht. Hier enthüllt der Leiter seine eigenen Einsichten und Praktiken, die er vermutlich wohl rechtfertigen kann, denn (so sagt er) die Welt verstehe sie ohnehin nicht, aber wegen seines eigenen geistlichen Fortschrittes könne er diese verborgenen oder geheimen Wahrheiten verstehen und ausüben. Auf diese Weise bindet der Kultführer die anderen an die Gruppe, indem er argumentiert, sie könnten ein Teil des inneren Kreises von erleuchteteren und geistlicheren Leuten werden.

In beiden oben beschriebenen Beispielen würden die meisten christlichen Konfessionen erkennen, daß die Extreme beider Gruppen jenseits vernünftiger Interpretation der Bibel und der Traditionen der Kirche liegen.

Man könnte auch weniger extreme Beispiele anführen, wie z.B. die Hirtenbewegung. Man würde sich schwer tun, in der Lehre dieser Bewegung Fehler zu finden. Der Fehler liegt hier in der autoritären Struktur, welche unbedingte Unterwerfung unter die Führerschaft auf jedem Lebensgebiet verlangt und dadurch über die Grenzen akzeptabler biblischer Autorität hinausgeht.

Erschreckend ist, daß viele dieser kultischen Gruppen sich mit gutem Gewissen zu einem orthodoxen, fundamentalen und evangeliumsgemäßen Glauben bekennen dürften. Aber in der Erscheinung und Praxis verkörpern sie eine subtile, jedoch tödliche Leistungs-Religion, indem sie versuchen, im wesentlichen nach nichtbiblischen Standards zu leben, die ihnen von ihrem Leiter auferlegt wurden. Oft wechseln diese Standards von Monat zu Monat oder von Woche zu Woche und erzeugen dadurch eine destabilisierte Atmosphäre, welche die Mitglieder noch mehr von ihrem Leiter abhängig macht. Durch das Evangelium wird jedoch der Sinn des Lebens wiedergewonnen und die Selbstachtung wiederhergestellt. Bussell weist darauf hin, daß für ehemalige Mitglieder häretischer christlicher Gruppen ein klares Verständnis des Evangeliums die wichtigste Voraussetzung für die Wiederherstellung und für die Immunität gegenüber zukünftige Kulteinflüsse ist (siehe auch W. Martin. 1980, S. 71-81).

Herausholen anderer Während Stadium zwei werden ehemalige Mitglieder oft einige Energie für Versuche aufwenden, ihre Freunde aus der Sekte herauszuholen. Ohne sorgfältige Planung könnten sich solche Versuche als erfolglos erweisen. Darüber hinaus könnte die Mühe und Energie, die dafür verwendet wird, einem Freund zu helfen, die Wiederherstellung des ehemaligen Mitgliedes selbst beeinträchtigen. Deshalb ist es für ehemalige Kultmitglieder das Beste, zuerst selbst stark zu werden und dann erst einen Plan zu entwickeln, der ihren Freunden am besten helfen kann. Eine Möglichkeit ist dabei die, daß Eltern die Eltern des Freundes kontaktieren, um Informationen über die Gruppe auszutauschen. Wenn einmal dieser Austausch erfolgt ist, so ist es Sache der Eltern den Freundes, eine Strategie zu entwickeln, mit der sie ihrem Angehörigen helfen können.

Ein schlecht geplanter Telefonanruf oder ein Artikel, der schnell an einen Freund gesandt wurde, wird normalerweise zur Folge haben, daß der Freund die Information dem Leiter mitteilt. Stets wird der Leiter das Material widerlegen, und das unglückliche Sektenmitglied wird meinen, das ehemalige Mitglied sei das irregeleitete.

Kontakt mit dem Kult Manche ehemalige Mitglieder sind in Verlegenheit, wenn sie mit Leuten in Kontakt kommen, welche noch im Kult sind; daher muß man sie darauf vorbereiten. Die meisten Kulte werden weiterhin versuchen, ihr abtrünniges Mitglied zu beherrschen. Der Kult hat zuerst einmal das Ziel, das ehemalige Mitglied zur Rückkehr zu bewegen. Gelingt dies nicht, dann werden sie destruktive Methoden anwenden, d.h. sie werden das ehemalige Mitglied diskreditieren und alle Kontakte zwischen ihm und denen im Kult zu begrenzen suchen.

Im allgemeinen ist es für ehemalige Mitglieder sinnlos, mit Kultmitgliedern zu argumentieren. Deren Trick besteht darin zu sagen: "Wir vermissen dich", "wir lieben dich", "wir haben so große Sorge um dich", "wir haben für dich gebetet". Für das ehemalige Mitglied ist es am besten, wenn es seine Anerkennung für die Anteilnahme ausdrückt und ein späteres Treffen in Aussicht stellt. Das ehemalige Mitglied sollte keine wie immer gearteten Zusagen machen; statt dessen sollte es die Kultmitglieder ihre Rolle spielen lassen. Wen es Anzeichen dafür gibt, daß die Kultmitglieder ehrliche Fragen bezüglich ihres eigenen Engagements in der Gruppe haben, dann könnte das ehemalige Mitglied ihnen vorsichtig Informationen zukommen lassen. Wenn ein Treffen veranstaltet wird, dann sollten ehemalige Mitglieder niemals allein hingehen, sollten für das Treffen klare Ziele festsetzen und sollten ihre Bemerkungen auf diese Ziele hin beschränken.

Vergeltungsmaßnahmen durch den Kult Eine ernstere Sache ist es, wenn es sich um Furcht vor den Drohungen eines Kultes handelt. Wenn bekannt ist, daß die Gruppe gegen ehemalige Mitglieder Gewalt anwendet, dann muß sich das ehemalige Mitglied schützen. Madeleine Tobias gibt im Kapitel 16 praktische Anweisungen dafür, wie ehemalige Kultmitglieder sich vor ihrer früheren Gruppe schützen können.

Wiederauftauchen der Vergangenheit Stets werden bei der Aufarbeitung im Stadium zwei vergangene Ereignisse auftauchen: "Es gab Probleme, über die ich niemals sprach, bevor ich diesem Kult beitrat". Solche auftauchenden Probleme können sein:

- Nicht aufgearbeitete Trauer über die Scheidung der Eltern

- Tod der Eltern

- Drogen-, Alkohol- oder andere Süchte in der Familie

- Persönliche Probleme

- Einsamkeit

- Unbefriedigende Beziehungen zum anderen Geschlecht

Manchmal kann einen Krise - wenn z.B. ein Familienmitglied einem Kult beitritt und dann nach großen Ängsten der Familie wieder zurückkehrt - ein völlig neues Verständnis für unaufgearbeitete Probleme auslösen.

Vor kurzem traf ich einen jungen Mann, Charles, der in einer zerrütteten Familie aufwuchs. Sein Vater verließ die Familie für mehrere Jahre, als Charles noch ein Kind war. Während dieser Zeit hing die Mutter von emotionaler Unterstützung durch Charles ab. Infolgedessen fühlte sich Charles überwältigt und hilflos und konnte nicht wirklich wie ein Kind leben; er mußte "stark und verantwortungsvoll" sein. Bitterkeit und Groll waren die Folge.

In wunderbarer Weise veranlaßte die Krise alle Familienmitglieder - Vater, Mutter, Charles und den zweiten Sohn Jerry - , das Problem zu erkennen. Gleichzeitig entdeckten sie einige Bücher über gegenseitige Abhängigkeit und kamen darauf, daß die Familie ernste Probleme hatte. Obwohl es viel Kummer und Tränen gab, waren Ablehnung und Widerstand verschwunden. Sie machten mit gutem Erfolg rasche Schritte zur Wiederherstellung.

Die aktuelle Krise kann eine ausgezeichnete Gelegenheit sein, die Beziehungen innerhalb der Familie zu verbessern, die Wunden der Vergangenheit zu heilen und Muster gesunder Beziehungen zu entwickeln, welche der nächsten Generation zugute kommen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Stadium zwei die erfolgreiche Wiedergewinnung sinnvoller Glaubensvorstellungen über sich und die Welt beinhaltet. Die Selbstachtung muß wiedergewonnen werden und die ehemaligen Kultmitglieder müssen von der Vorstellung befreit werden, sie seien in irgend einer Weise für den Mißbrauch verantwortlich, unter dem sie während ihrer Kulterfahrung gelitten hatten. Während dieses Stadiums ist das Sammeln von Informationen über die Gruppe und die allgemeinen religiösen und philosophischen Traditionen wichtig, auf denen die Gruppe vorgeblich ihre Glaubensvorstellungen aufbaute. Unterstützung durch Freunde, ehemalige Mitglieder und Angehörige ist die unverzichtbare Grundsubstanz, in der Stadium zwei abläuft. Für jene, die aus Gruppen auf christlicher Grundlage kommen, ist die Wiederentdeckung des Evangeliums, d.h. die unverdiente Vergebung und Annahme durch Jesus Christus wesentlich.

Stets wollen in diesem Stadium ehemalige Mitglieder ihre Freunde aus der Gruppe herausholen oder werden selbst durch den Kult kontaktiert. Hier ist Vorsicht geboten; sorgfältige Planung und gründliche Vorbereitung sind wichtig, bevor irgendeine Kommunikation mit dem Kult erfolgt.

Erfolgreicher Fortschritt durch Stadium zwei wird auch ein Wiederauftauchen vorkultischer Probleme zur Folge haben. Die Krise der Kulterfahrung selbst ebnet oft den Weg zu einer realistischen Bewältigung dieser Probleme. Schließlich muß das Kultmitglied im Zusammenhang der gesamten Kulterfahrung auch die positiven Seiten dieser Erfahrung erkennen. Nicht nur die Selbstachtung muß wiederhergestellt werden, sondern es werden auch durch die Unterstützung und Bekräftigung durch sorgende Angehörige das ganze Selbst oder jene Teile der Persönlichkeit, welche während der Kulterfahrung unterdrückt und nicht gefördert wurden, wiedererstehen.

Stadium drei: Wiedereingliederung in die Gesellschaft

Wenn das ehemalige Kultmitglied immer weniger über den Kult spricht und sich mehr mit Fragen der Karriere, der Beziehungen und der persönlichen Probleme beschäftigt, dann befindet es sich in der dritten Stufe der Wiederherstellung. In vielen Fällen war die Kulterfahrung eine zeitweilige Abweichung vom Weg zum Erwachsenwerden, wobei der Kult oft die Bestrebungen des Mitgliedes bezüglich Karriere und Ausbildung hintertrieben hat. Viele Fallbeispiele zeigen, daß, wenn jemand sich einmal einem Kult angeschlossen hatte, die Leiter ihm oft rieten, seine grundlegenden Ziele zu verändern, die Schule zu verlassen usw. Die Entscheidung der Leitung, eine andere Laufbahn anzustreben, wird in Phrasen wie den folgenden verpackt: "Es wäre für Gottes Königreich nützlicher.....", "Es würde Gott mehr freuen, wenn du dich dazu entschlössest.....", "Die Welt würde schneller erleuchtet, wenn du....."

Positive Seiten der Kulterfahrung So seltsam es klingen mag, oft gibt es auch Positives aus der Kulterfahrung. Vielleicht wurde ungesunde Schüchternheit überwunden, weil man dazu ermutigt wurde, eine leitende Stellung auszuüben, die man vorher nicht erreichen konnte. Die Entdeckung eines angeborenen Talents für Organisation und Administration mögen das Kultmitglied überrascht haben. In einem Kult lernt jeder Disziplin, harte Arbeit, Ausdauer, besondere Fertigkeiten und Teamwork. Diese Fertigkeiten können jemandem auch zum Nutzen sein, wenn er sie in der wahren Freiheit anwendet.

Wiederherstellung der Gesamtpersönlichkeit Wichtig ist jedoch, das Positive aus der Kulterfahrung mit den vorkultischen Bestrebungen zu verbinden. Ich fand einige aufschlußreiche Anhaltspunkte für die Persönlichkeit und die Interessen meiner Patienten, indem ich mit ihnen die Aktivitäten, Träume, Wünsche und Talente ihre Kindheit durchforstete. Wenn ich z. B. an meine eigene Kindheit denke, so war ich damals von einer starken Liebe zum Freien, zur Natur, zum Fischen, Jagen, Reisen und von einer starken Neigung zum Informellen erfüllt. Ich haßte Protokolle wie das Tragen meines Sonntagsanzugs, meine Hausaufgaben und Klavierstunden.

Nun, welche Aufschlüsse aus meiner eigenen Kindheit könnten dazu dienen, mich als Erwachsenen zu verstehen, der in einem Kult war ? Meine Kindheit lieferte wenige Aufschlüsse über Laufbahn und Berufung. Die Erfahrung meiner Kindheit bot jedoch sehr wertvolle Einsichten betreffend mein zukünftiges Temperament, meine Interessen und meinen Lebensstil. Bis zum heutigen Tage liebe ich das Leben im Freien, die Natur - die Hügel, die Seen, den Himmel, die Wolken, die Sonne, die Tiere und die Blumen. Meine Liebe zur Natur ließ es mir während der acht Jahre Stadtleben, als ich Kultmitglied war, ungemütlich werden. Ich lebe nun auf dem Lande und fühle mich viel mehr zuhause. Formalitäten mag ich weiterhin nicht. Einen Anzug trage ich nur, wenn es sein muß. Ich fühle mich in Jeans und einem Flanellhemd viel wohler.

Die Jahre im Kult stellten jedoch mein wahres Ich in frage. Meine Liebe zur Natur und zum Landleben paßten offenbar nicht zur Berufung meiner Gruppe zur aggressiven Evangelisierung. Ich begann immer mehr zu denken, daß ich irgendwie weniger spirituell sei als die anderen. Meine Liebe zur Kunst und zum kreativen Geist in anderen schien nicht mehr zu passen. Das Leben war in erster Linie Leidenschaft für die Pflicht, Christus der Welt nahezubringen. Das Leben ändert sich von farbig zu schwarz-weiß. Rosen dufteten nicht mehr süß. Tatsächlich waren wir sogar zu beschäftigt, um wenigstens die neuen schwarz-weißen, duftlosen Rosen zu sehen. Teile von mir waren währen dieser siebeneinhalb Jahre im Kult tot, und ich weiß, daß auch andere ebenso in einer Existenzform lebten, die den Reichtum ihrer Talente und Temperamente nicht voll würdigen konnten.

Der Wiederherstellungprozeß bringt im Stadium drei das ehemalige Kultmitglied wieder dazu, eine ganzheitliche Person in einer ganzheitlichen Welt zu sein, befreit vom Schwarz-Weiß-Denken und ungebührlichem Einfluß. Mit anderen Worten, im Stadium drei beginnt das wiedererstehende ehemalige Mitglied eine Reihe von erfolgreichen Anpassungsschritten an die Gesellschaft zu machen.

Die Persönlichkeit und religiöses Engagement Kulte lehren oft die Schwarz-Weiß-Ordnung, indem sie auf das Gebot Christi hinweisen, "sich selbst zu verleugnen" und "allem zu entsagen". Für viele ehemalige Kultmitglieder in der Wiederherstellungphase ist das Verständnis dieser Worte Christi ein drückendes Problem. Ehemalige Mitglieder, die das Christentum annehmen wollen, fragen vielleicht: wünscht Gott wirklich eine verkürzte Version von uns selbst ? Warum würde er uns wohl mit unserem Reichtum von Talenten, Interessen und Temperamenten erschaffen haben - nur um uns zu sagen, daß all dies vom Übel sei ? Ist es nicht die Botschaft Christi, wir sollten unser ganzes Selbst mit seinem Reichtum und seinen Bedürfnissen Gott schenken, damit es Seiner Ehre und seinem Königreich diene ? Durchdringen die Worte Christi den Geist des Gesetzes und enthüllen in unseren Herzen und in unserem Willen, daß wir möglicherweise nicht von Gott auf der Basis von guten Werken angenommen werden können ? Zeigen daher die Gebote Christi, alles zu verachten, sich selbst zu verleugnen, sein Kreuz auf sich zu nehmen und eine Gerechtigkeit zu haben, die größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, nicht die äußerste Unmöglichkeit für jeden, jemals einen solchen Grad der Gutheit durch das Befolgen von strikten Befehlen zum erreichen ? Ein Kultmitglied mag währen der Wiederherstellungsphase so fragen wie Petrus, als der reiche Jüngling wegging: "Wer kann dann noch gerettet werden ?" Belehrte ihn Jesus nicht mit seiner Antwort : "Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich" ?

Ein gesundes geistliches Leben wird daher verzerrt, wenn man nicht zwei Dinge beachtet. Erstens die Unmöglichkeit der Wiederversöhnung mit Gott ohne Gottes Initiative, bedingungslose Liebe und Ermächtigung. Zweitens die betonte Annahme unserer selbst. Müssen wir unsere Talente und unsere Persönlichkeit verlieren, um von Gott angenommen zu werden ? Scheint es nicht so, daß nur ein "kranker", nichtexistierender Gott solche Forderungen stellen würde ? Ehemaligen Anhänger eines Bibelkultes, welche den Akt der Wiederversöhnung und der Annahme Gottes erlebten, wurde eine Möglichkeit geboten, Wachstum und Heilung in ihrem Leben zu sehen, wie es ihnen früher nicht möglich war. Der Akt der Gnade macht zwei Wunder möglich: Liebe zu Gott und Liebe zu sich selbst. Zu klären, was das Selbst ist und daß Gott wirklich die Menschen annimmt und bestärkt, hilft den Leuten, die Fragen der Karriere, Ausbildung und Selbstidentität ins rechte Licht zu rücken.

Wiedergewinnung des Sinnes für das Praktische Praktische Fragen wie das Umgehen mit Zeit und Geld, das Setzen von Zielen und ein allgemeines Wiedergewinnen des normalen Lebensstils müssen auch in Angriff genommen werden. Das Programm von Wellspring bietet Eignungstests an, um den Patienten fruchtbringende Wege zu ihrer zukünftigen Laufbahn und Ausbildung zu eröffnen.

Bei der Arbeit zur Wiederherstellung der praktischen Fähigkeiten ist es manchmal notwendig, dem ehemaligen Mitglied erkennen zu helfen, welche Fähigkeiten für erfolgreiche Verhandlungen zum Erreichen einer Anstellung, einer Schulausbildung oder einer Beziehung notwendig sind. Zum Beispiel wird oft eine Reihe von Tests für Berufslaufbahnen angeboten. Die Ergebnisse werden im Lichte der vorkultischen Persönlichkeit, der durch den Kult verursachten Identitätsprobleme und der derzeitigen Bestrebungen des Betreffenden diskutiert. Es mag auch notwendig sein, praktische Fähigkeiten zu lehren: die Bemühungen zur Erlangung einer Anstellung, die Vorbereitung für Anstellungs-Interviews, die zusammenfassende Darstellung der Kulterfahrung, wie man sich für ein Interview kleidet und wie man sich dort benimmt, typische Erwartungen von Arbeitgebern bezüglich Arbeitsweisen, zwischenmenschliche Beziehungen usw.

Anerkennung von Sexualität und intimen Beziehungen Sexualität und Verabredungen können für ehemalige Kultmitglieder schwerwiegende Probleme darstellen. Viele Kulte deformieren intime Beziehungen. Einige Kulte veranstalten Hochzeiten, z.B. die Vereinigungskirche und die University Bible Fellowship. Viele Kulte erlauben Verabredungen überhaupt nicht. Ehelosigkeit ist auch für Hare Krishna, für die höheren Leiter der Transzendentalen Meditation und die Mitglieder von Ananda Marga Yoga typisch. Andere Gruppen wieder gestatten Verabredungen innerhalb der Gruppe, aber nur unter Aufsicht und mit Genehmigung der Leitung. In der Boston Church of Christ waren Verabredungen fast nur für jeweils zwei Paare gemeinsam gestattet; ehemaligen Mitgliedern zufolge wurde diese Vorschrift neuerdings etwas aufgeweicht. Ehemalige Mitglieder von Great Commission International (CGI) berichteten mir, daß von Verabredungen abgeraten wurde oder sie sogar verboten wurden, außer mit Genehmigung der Ältesten. Der Gründer und frühere Leiter von CGI, Jim McCotter (1984, S. 40), schrieb, Verabredungen seien eine Art von Parteienbildung ähnlich anderen Parteienbildungen, welche eine Kirche spalten könnten. (Das Zitat von McCotter lautet wörtlich: "Was wir 'Verabredung' nennen, nennt die Bibel wohl 'Parteienbildung'[Jak 2,9]. Was wir 'Freund/Freundin' nennen, nennt die Bibel 'Clique' oder 'Partei'[Gal 5,20]"). Berichte von Maranatha Ministries enthüllen, daß die Regeln für Verabredungen so streng waren, daß die Mitglieder die Leiter um Erlaubnis fragen mußten und sich nur mit Leuten aus der Bewegung verabreden durften. Verabredungen für ein einzelnes Paar wurden nur gestattet, wenn die Partner verlobt waren.

Einige Kulte vertreten die Ansicht, sexuelle Gefühle seien sündhaft und wollüstig. Eines der wichtigsten Beispiele dieser Art ist die Vereinigungskirche (Moon-Sekte). Auch die Hare Krishnas vertreten die extreme Ansicht, Sex diene nur der Zeugung (nicht der Freude der Ehepartner) und dürfe nur einmal monatlich ausgeübt werden.

Ganz im Gegensatz dazu werden Nacktheit und vorehelicher Sex in anderen Kulten und Kirchen erlaubt, empfohlen oder sogar geboten. Eine Patientin in Wellspring berichtete, daß Mitgliedern ihrer ehemaligen Kirche gesagt wurde, sie sollten in gemischter Gesellschaft ihre Kleider ausziehen, um zu zeigen, daß sie füreinander "offen" seien. Von einer anderen Gruppe in Racine, Wisconsin, wird berichtet, daß der Leiter, Larry Yarber, einer Frau sagte: "Öffne deine Hose. Niemand sollte dich daran hindern. Gott will, daß deine Bedürfnisse befriedigt werden. Du hast zur Zeit keinen Mann; du wirst einmal einen haben" (Burger, 1989, S. 5). Andere weibliche Mitglieder berichteten dasselbe. Die interviewte Frau sagte, Yarber benützte Sex unter dem Vorwand, ihnen bei ihren "sexuellen Problemen" zu helfen (Romenesko, 1990, S. 95). Außerdem berichteten ehemalige Mitglieder, daß Yarber den Frauentausch befürwortete (S. 96).

Von John Gottuso, einem Pastor der Park View Christian Fellowship in Kalifornien, wird berichtet, daß er eine Reihe von Frauen zu sexuellen Beziehungen mit ihm als Hilfe für ihr spirituelles Leben überredete (Milligan, 1989, S. A-8). Ein anderes Mitglied der Kirche von Gottuso sagte: "Das Thema war Masturbation unserer tiefsten und dunkelsten Geheimnisse...oftmals forderte er Männer und Frauen auf, ihre Kleider oder Hosen auszuziehen - um ihre Geschlechtsteile oder Brüste zu zeigen" (Nelson, 1988, S. 6). Beispiele vieler anderer Gruppen könnten angeführt werden. Diese Erläuterungen sind als Beispiele von Typen von in Kulten dargestellter Sexualität angeführt, von denen einige (einschließlich die von Gottuso) den Glauben an das Evangelium unterstreichen sollen.

Die breite Palette von sexuellen Einstellungen und Praktiken, die man in Kulten beobachten kann, erklärt die Verwirrung, die viele ehemalige Mitglieder überkommt, wenn sie sich dem sexuellen Verhalten und der Wertmaßstäben außerhalb des Kultes wieder anzugleichen versuchen. Zu diesem Zeitpunkt ist es hilfreich, das ehemalige Kultmitglied sehen zu lassen, wie die Maßstäbe der Gruppe von den in der Gesellschaft akzeptierten Normen für Verabredungen, von seinem eigenen Gewissen und von der Tradition der Großreligionen abwichen.

Nicht selten neigen ehemalige Kultmitglieder, wenn sie die Gruppe verlassen haben, zu Extremen. Der sexuell "Reine" mag wahllosem Sex verfallen und der sexuell Aktive mag unerträglich prüde werden. Helfer können für diese wilden Extremen kein schnelles Heilmittel anbieten. Dieses Verhalten enthüllt nur die Schäden und den Mißbrauch durch den Kult. Helfer, die ein solches Verhalten beobachten, können normalerweise den Schluß ziehen, daß das ehemalige Kultmitglied unter schrecklicher Wut leidet und ihm möglicherweise professionelle Hilfe guttun würde.

Sehnsucht nach Freunden im Kult Auch im Stadium drei wird das ehemalige Mitglied weiterhin die Freunde vermissen, die im Kult zurückgeblieben sind, und wird versuchen wollen, sie herauszuholen. Vernünftige Versuche, einem Freund zu helfen, sind zu empfehlen, sobald das ehemalige Kultopfer genügend wiederhergestellt ist. Wenn das ehemalige Mitglied fortwährend darauf besteht, Leute herauszuholen, d.h. wenn es dauernd über seine Freunde, die im Kult zurückgeblieben sind, und über seinen Wunsch, ihnen zu helfen, nachdenkt und spricht, dann ist es vernünftig, mit ihm ernsthaft darüber zu sprechen. Erforsche die möglichen Gründe für so ein starkes Anliegen, wie etwa Abhängigkeitsbeziehungen mit denen im Kult, außerordentliche Schuldgefühle darüber, einige dieser Leute geworben zu haben, ein übertriebenes Bedürfnis, Freunde zu retten, oder einfach den Wunsch zu helfen. Wenn über diese Punkte gesprochen wurde, wird das ehemalige Mitglied besser in der Lage sein zu beurteilen, ob es irgendwelche Probleme gibt, die weitere Maßnahmen erfordern.

Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn das ehemalige Kultmitglied bessere Beziehungen zu seinen Eltern wünscht. Vielleicht können die langen gemeinsamen Familienferien, die nie zustandekamen, endlich verwirklicht werden. Einige Beratungssitzungen mit der Familie würden nicht schaden. Zumindest ist es jetzt Zeit, für regelmäßige wöchentliche Familienaktivitäten Zeit zu reservieren. Eltern sollten etwas planen, woran die ganze Familie teilnehmen kann, wie z.B. ein Spiel, ein Arbeitsprojekt oder einfach auswärts essen zu gehen.

Nachkultische Beurteilung

Soweit habe ich nun Fragen besprochen, die bei der Wiederherstellung ehemaliger Kultmitglieder kritisch sind. Diese Fragen sind wichtig für eine allgemeine Beurteilung, wie man ehemaligen Kultmitgliedern helfen kann. Nun will ich für Psychologen und andere Fachleute für psychische Gesundheit die formalen Beurteilungsverfahren beschreiben, die wir im Wellspring Retreat and Resource Center anwenden.

Viele glauben, daß die Probleme gelöst sind, wenn jemand einmal einen Kult verlassen hat, d.h. einer erfolgreichen Ausstiegsberatung und Rehabilitation unterzogen wurde. Viele verstehen nicht, daß die Ausstiegsberatung für sich allein, so wertvoll sie auch sein mag, nicht die allgemeine Notlage des ehemaligen Mitgliedes bereinigt. Die Entscheidung des ehemaligen Kultmitgliedes, den Kult zu verlassen, mag definitiv sein, aber es verbleibt eine Menge von ungelösten Problemen, welche stets hohe Streßbelastung bewirkt. Meine eigene Forschung über Krankheitsgeschichten von Leuten, die Kulte verlassen haben (Martin, Langone, Dole, & Wiltrout, 1992) zeigt, daß "Walkaways" (solche, die Kulte ohne Ausstiegsberatung verlassen) sich bezüglich des Millon-Test-Profils statistisch von solchen nicht unterscheiden, denen Ausstiegsberatung zuteil wurde. Dieser Unterschied kann nicht durch andere Moderator-Variable erklärt werden.

Warum sind nun die Probleme der "Walkaways" und derer mit Ausstiegsberatung einander so ähnlich, ob sie nun an einem Rehabilitationsprogramm teilnehmen oder nicht ? Wahrscheinlich deshalb, weil sie weiterhin mit einer Anzahl von Problemen konfrontiert sind, welche die Ausstiegsberatung nicht zur Gänze lösen kann, darin eingeschlossen:

o Unbewältigte Trauer über den Verlust von Freunden in der Gruppe

o Ungelöste Fragen bezüglich dessen, was in der Gruppe richtig und was dort falsch war

o Ungewißheit darüber, wer sie sind

o Unerkannte Abhängigkeitsprobleme

o Unsicherheit bezüglich Berufslaufbahn

o Ungelöste Probleme bezüglich Gott, heiligen Schriften, religiöser Autorität, geistlicher Berufung (für solche, die religiöse Kulte verlassen)

o Unklare Gedanken über Therapie, Werte, persönliches "Wachstum", ihre eigene Identität und den Kampf darum, sich in positiver Richtung zu verändern (für jene, welche psychotherapeutische oder "human potential"-Kulte verlassen)

o Ungelöste Konflikte bezüglich der Frage, ob sie "Opfer" oder "Agenten" waren

o Lähmende Furcht davor, neue Freunde und neue Karrieremöglichkeiten zu finden, zu sehr Verhaftetsein in der Vergangenheit

o Unerfüllte Kommunikationsbedürfnisse mit den Eltern und ihren Erwartungen

Was ist nun der beste Weg, die Faktoren zu beurteilen, die zu den nachkultischen Nöten beitragen? In Wellspring haben wir eine Serie von Standardinstrumenten gesammelt und entwickelt, die dazu benützt werden, die Patienten in allen wichtigen betroffenen Gebieten zu beurteilen.

Derzeit benützen wir in Wellspring die folgende Testserie für unsere nachkultische Beurteilung:

1. Aufnahme-Interview. Sammelt allgemeine biographishe Information, Hintergrundinformation aus der Familie und der gesellschaftlichen Sphäre, körperliche und geistige Gesundheit, besondere Kennzeichen der Kultgruppe. Zeit: 1 Stunde oder mehr, abhängig vom Stil des Interviews.

2. Life Orientation Inventory (LOI) (Kowalchuck & King, 1988). Besteht aus einem vorläufigen Screening-Fragebogen mit 30 Fragen, um die Suicidgefährdung des Patienten zu ermitteln. Wenn das Ergebnis nahe 70 oder darüber ist, wird ein längerer Fragebogen (mit 113 Fragen) verwendet, um die Bereiche der stärksten Konflikte (Arbeit, Beziehungen, Familie usw.) zu bestimmen. Testzeit: 10 Minuten; für den längeren Fragebogen 45 Minuten).

3. Millon Clinical Multiaxial Inventory (MCMI) (Millon, 1987). Klinische Standarduntersuchung zur Messung persönlicher Charakteristika und affektiver Zustände. Ähnlich dem Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI); beurteilt den zu Testenden nach Graden von: Abhängigkeit, Zwangsvorstellungen, Passivität-Aggressivität, Narzißmus und psychotischen Tendenzen, um einige zu erwähnen. Das Profil wird durch ein Diagramm bestimmt und dargestellt. Zeit: 45 -90 Minuten.

4. Beck Depression Inventory (BDI) (Beck, Ward, Mendelsohn, Mock, & Erbaugh, 1961).

Formloser Fragebogen mit 21 Fragen, welche den gegenwärtigen Grad der Depression bestimmen. Entwickelt von dem wohlbekannten cognitiven Therapeuten Aaron Beck. Ungefähre Zeit: 5 Minuten.

5. Interpersonal Behaviour Survey (IBS) (Mauger, Adkinson, Zoss, Firestone, & Hook, 1980). Untersuchung zur Unterscheidung assertiven Verhaltens von aggressivem Verhalten, wie "Ausdruck von Zorn" oder "Zurückweisung von Wünschen", Konfliktvermeidung und "Abhängigkeit". Zeit: 30-40 Minuten.

6. Hopkins Symptom Checklist (HSCL) (Derogatis, 1977).Eine schnelle und genaue Methode zum Messen des affectiven Status bei psychologischer Erschöpfung. Eine verkürzte Version von SCL-90. Zeit: 10-15 Minuten.

7. Post-Cults Need Assessment. Eine Informations-Checkliste, in Wellspring entwickelt, welche die persönlichen Wünsche des Patienten für das Kernstück der Rehabilitation festhält, wie emotionelle Belange, soziale Belange, Familienprobleme, spirituelle Belange, Bedarf an Information über Kulte, berufsmäßige Bedürfnisse. Zeit: 30 Minuten

8. Self-Directed Search (Holland, 1990). Eine frei formulierte Untersuchung über Berufsinteressen, um die Wahl von bevorzugten Berufslaufbahnen des Patienten zu bestimmen. Zeit: 1 1/2 Stunden.

9. Adult Child Distortion Scale (ACDS) (Crites & Russell, 1988). Beurteilt dysfunktionale Abhängigkeitsbereiche der Struktur der Ursprungsfamilie und der gegenwärtigen Familie sowie den persönlichen Kommunikationsstil. Testzeit: 30 Minuten.

10. Dissociative Experiences Scale (DES) (Bernstein & Putnam, 1986) and Splitting Scale (SS) (Gerson, 1984). Kombinierte Meßmethoden haben 60 oder weniger Fragen und messen den Grad der Anfälligkeit für Bewußtseinsspaltung und den Grad der durch den Kult bewirkten Bewußtseinsspaltung. Zeit: 15 Minuten.

11. Religious-Metaphysical Index. Inhalt des religiösen Glaubenssystems vor Eintritt in die Gruppe, während der Gruppenzugehörigkeit und Wünsche für zukünftige Glaubensinhalte (wird in Wellspring entwickelt).

Die Testserie, die von Wellspring benützt wird, ist keineswegs vollständig. Eine kritische Schwäche ist das Fehlen eines Instrumentariums, das objektiv feststellen kann, in welchem Ausmaß Gruppen kultisch sind. Dr. Michael Langone und Dr. Robert Chambers entwickeln derzeit ein solches Instrumentarium.

Die Eigenheit der nachkultischen Beurteilung benötigt die Fertigkeiten von erfahrenen Psychologen, Psychiatern, klinischen Sozialarbeitern und Beratern für psychische Gesundheit. Daher sollte nachkultische Beurteilung durch solch qualifiziertes Personal organisiert und überwacht werden.

Außerdem benötigt nachkultische Beurteilung mindestes einige Tage Zeit. Meiner Meinung nach würde ein kürzerer Zeitraum entweder unvollständige Resultate ergeben oder als zu intensiv empfunden werden, falls die Untersuchung sorgfältig durchgeführt wird. Ich bezweifle, daß viele Leute, die gerade einen Kult verlassen haben, bereit sind, die notwendigen Tests und Interviews an einem einzigen Tag zu absolvieren. Wenn die Tests über zwei oder drei Tage verteilt werden, erlaubt dies jedoch genügend Zeit zur Entspannung, Erholung und zur Reflexion.

Reflexion ist wichtig, denn die Gedanken, Gefühle und das Verhalten derer, die vor kurzem einen Kult verlasen haben, ändern sich von Tag zu Tag. Wenn Therapeuten ein ehemaliges Mitglied während mehrerer Tage sehen können, bekommen sie einen besseren Gesamteindruck vom Zustand des Patienten. Beurteilungen müssen dynamisch sein, denn die Bedürfnisse und das Auffassungsvermögen des Patienten werden sich im Laufe der Zeit bedeutend ändern.

Das Wellspring-Behandlungsprogramm

Fragen nachkultischer Beurteilung und Rehabilitation gehören zusammen. Die ersten Tage der Rehabilitation sind (zumindest in Wellspring) Perioden für eine solche Beurteilung. Rechtzeitiges Handeln in dieser Periode ist wichtig. Die gegenwärtige Forschung zeigt, daß Traumata einige Tage nach dem traumatischen Ereignis feste Formen annehmen (siehe z.B. Scurfield, 1985, S. 240,241,242). Je

schneller die Maßnahmen erfolgen (z.B. Krisenintervention und Aufklärung darüber, was geschehen ist, wie es geschah und welche Gefühle zu erwarten sind), desto weniger wahrscheinlich wird sich posttraumatic stress disorder (PTSD) entwickeln. Probleme und Bedürfnisse werden identifiziert und an vielen davon wird während des gewöhnlich zwei Wochen dauernden Aufenthaltes in der Anstalt gearbeitet.

Allgemeine Beschreibung

Das Ziel des Wellspring-Programmes ist es, ehemaligen Kultmitgliedern bei der Rückkehr zum normalen Leben zu helfen und sie von den schädlichen Folgen ihrer Kulterfahrung, zu denen falsche Schuldgefühle, Depressionen, Angst, Furcht, Verwirrung und Reue gehören, zu befreien. Auf diese Weise verhelfen wir unseren Patienten zu emotionaler Stabilität. Wir helfen ihnen auch bei der Rückkehr zu sozialer Stabilität, indem wir sie bei der Reintegration in die Familie, den Freundeskreis und das Berufsleben unterstützen - Beziehungen und Lebensziele, die oft durch den Kult unterbrochen werden. Außerdem helfen wir denen, die es wünschen (und die meisten wünschen es), eine ganzheitliche und biblische Beziehung zu Gott und Kirche oder Synagoge (wieder-)herzustellen - mit anderen Worten, wir helfen ihnen zu einer Rückkehr zu spiritueller Stabilität.

Patienten wird Wellspring auf verschiedene Weise empfohlen. Viele werden durch persönliche Berater an uns verwiesen, die mit Eltern, Geschwistern und/oder Kindern von Kultmitgliedern zusammenarbeiten, um ihre(n) Angehörige(n) aus dem Kult durch freiwillige Gespräche und Beratung über die Fehler und Gefahren des Kultes zu befreien. Manche werden durch Ausstiegsberater und Angehörige verschiedener Anti-Kult-Organisationen an uns verwiesen. Andere werden durch Pastoren oder Universitätsangestellte, die mit Wellspring vertraut sind, auf uns aufmerksam gemacht, wieder andere durch Freunde oder ehemalige Kultmitglieder, denen in Wellspring geholfen wurde. Leute, die nach Wellspring kommen wollen, haben sich auch bereits dazu entschlossen, ihre Gruppe zu verlassen, bevor sie kommen: in Wellspring findet kein "Deprogramming" statt.

Patienten werden nach Wellspring normalerweise von einem Elternteil oder von beiden Eltern, von einem oder mehreren der Geschwister, vom Gatten oder der Gattin, von einem oder mehreren (erwachsenen) Kindern und/oder von ihrem Ausstiegsberater (falls einer daran beteiligt war, ihnen beim Verlassen des Kultes zu helfen) begleitet. Bei der Ankunft werden der Patient / die Patientin und jene, die ihn / sie begleiten, im Gästehaus willkommen geheißen, wo dem Patienten/der Patientin sein /ihr Zimmer gezeigt wird und sie mit den Mitarbeitern und den anderen Patienten, die gerade anwesend sind, bekannt gemacht werden. Der Patient / die Patientin und Familienmitglieder oder Angehörige werden in eine der Mitarbeiterwohnungen eingeladen, wo man ihnen hilft, sich zu entspannen und sich wohl zu fühlen, während sie und die Mitarbeiter einander in einer formlosen Atmosphäre kennenlernen, oft im Rahmen eines Essens.

Familienmitglieder und Ausstiegsberater bleiben normalerweise nur bis zum nächsten Tag, gerade lang genug, um den Patienten / die Patientin in das Wellspring-Programm hinein zu begleiten und sicher zu gehen, daß sie ihre(n) Angehörige(n) einer verständigen und mitfühlenden Fürsorge übergeben.

Das Herzstück des Wellspring-Programmes besteht aus einer psychologischen Beratung und aus Lehrveranstaltungen über Kult-Dynamik sowie religiöse und spirituelle Fragen. Wegen der Natur des Problemes wird jeder Patient / jede Patientin als Individuum mit einer einzigartigen Kombination von Bedürfnissen und persönlichen Charakterzügen, Stärken und Schwächen miteingeschlossen, behandelt Deshalb wird die spezifische Beratung und Aufklärung, die angeboten wird, auf den Einzelnen zugeschnitten. Im allgemeinen werden die Beratungsvorträge so gestaltet, daß der Patient fähig wird, sich auf seine vom Kult verursachten emotionalen Probleme zu konzentrieren und effektive Lösungen für sie zu entwickeln. Theologische Information (die nur denen angeboten wird, die sie wünschen) konzentriert sich auf spezielle theologische und interpretative Fehler, die in Bibelkulten gelehrt werden, und zeigt, wie solche Fehler vom traditionellen jüdisch-christlichen Gedankengut abweichen. Für jene, die an persönlichen Bibelstudien interessiert sind, lehren wir Standardmethoden biblischer Exegese und Hermeneutik. Schließlich werden verschiedene Erkenntnisse über die Dynamik von psychischem Zwang und Indoktrination vorgestellt, damit die Patienten sehen, daß der Prozeß, durch den sie in den Kult hineingezogen wurden, eine subtile aber mächtige Kraft war, über die sie wenig oder keine Kontrolle hatten und weshalb sie sich wegen ihrer Erfahrung nicht schuldig fühlen oder schämen sollten.

In den Beratungs- und Aufklärungsvorlesungen wird viel Gebrauch von der umfangreichen Bibliothek von Wellspring mit ihren Büchern, Artikeln und Ton- und Videobändern gemacht, die eine breite Auswahl von Themen über spezifische kultische Organisationen und kultbezogene Fragen über Beratungsprobleme wie Depression und Sucht bis zu allgemeineren psychologischen und theologischen Büchern und Bändern beinhaltet.

Zusätzlich zu den Vorlesungen gibt es genügend Gelegenheit für Ruhe und Rekreation, um dem Patienten Gelegenheit zu bieten, sich von den normalerweise anstrengenden Zwängen des Kultlebens zu erholen, und ihm ein vorläufiges Modell eines gangbaren Lebensstiles zu vermitteln, das ein gesundes Gleichgewicht von Arbeit, Spiel und Entspannung enthält. Die Nähe von Wellspring zu zahlreichen Naturparks und Seen und zum Gelände der Universität von Ohio ermöglicht unseren Patienten viele verschiedene Arten von Rekreation.

Aufnahme und Programminhalte

Bevor irgendeine formale Beratung stattfindet, wird der Patient durch einen Mitarbeiter befragt und eine Reihe von Standardtests und Fragebogen wird durchgegangen, um die Bereiche des stärksten Bedarfes an psychologischer, sozialer und spiritueller Beratung zu bestimmen. Zusätzliche Information wird, wenn möglich, durch Beratungen mit den Eltern, anderen Familienmitgliedern und/oder Ausstiegsberatern eingeholt, die den Patienten vielleicht nach Wellspring begleitet haben. (Oft hat ausführliche Beratung schon vor dem Eintreffen des Patienten in Wellspring über Telefon stattgefunden). Unter Benützung der so gewonnenen Information wird ein spezielles Beratungs- und Aufklärungsprogramm maßgeschneidert, um die Bedürfnisse und Wünsche des Patienten zu erfüllen.

Obwohl die Erfahrungen und Bedürfnisse jedes Patienten einzigartig sind, gibt es doch viele gemeinsame Bereiche bei ehemaligen Kultmitgliedern. Daher wurde eine breite Vielfalt von Themen entwickelt, die je nach Bedarf vorgestellt werden, einschließlich der folgenden:

o Charakteristiken der Kultführung, Autorität und Einfluß

o Bewußtseins- und Gruppenmanipulation

o Sucht und Abhängigkeit

o Training des Selbstbewußtseins

o Zurechtkommen mit negativen Gefühlen ( z.B. Zorn, Angst, Depression, Schuldgefühle)

o Familienbeziehungen

o Sexualität

o Resozialisation

o Treffen von Entscheidungen

o Spirituelle und religiöse Enttäuschungen

o Vergleich von Religionen

o Interpretation der Bibel

o Verschiedene spezielle theologische Lehren und Fragen nach Bedarf (z.B. die Natur und der Charakter Gottes, die göttliche Gnade, das Evangelium, christliche Freiheit und Gesetzlichkeit, biblische Jüngerschaft, Erkennen des göttlichen Willens, die unvergebbare Sünde)

o Philosophische Konzepte und Ideen (z.B. Erkenntnistheorie, letzte Wirklichkeit, Sinn des Lebens, der Platz des Menschen im Universum)

o Berufsziele

o Wahl gesunden religiösen Engagements

Kein Patient wird gezwungen oder veranlaßt, religiöse oder spirituelle Fragen zu diskutieren, wenn er nicht möchte. Wellspring versucht nicht, Patienten zu irgend einer Kirche oder Konfession zu bekehren. Die große Mehrheit unserer Patienten aus Bibelkulten waren eifrig bemüht, die Schriften zu studieren, um zu verstehen, was sie wirklich lehren, und die verdrehten und falschen Lehren ihrer ehemaligen Gruppe auszutilgen. Wellspring bietet solchen Leuten Unterstützung an.

Die Patienten werden so viel wie möglich ermutigt, die Gangart und Intensität ihres Programmes in Wellspring selbst zu bestimmen. Frei verfügbare Zeit kann zum Wandern, Fischen, Trainieren oder für andere persönliche oder gemeinsame Freizeitbeschäftigungen benützt werden. Ausflüge in die Stadt zum Einkaufen, zur Unterhaltung, zur Benützung der Sportanlagen der Universität von Ohio oder zu anderen Zwecken können arrangiert werden. Die verschiedenen Aktivitäten in Wellspring sind dazu gedacht, ein vorläufiges Modell für einen gangbaren Lebensstil im Gegensatz zu den früheren Anforderungen des Kultlebens zu bieten.

Selten finden wir ein ehemaliges Kultmitglied, das sich ausschließlich mit kultbezogenen Fragen herumschlägt. Die Bedürfnisse der Patienten müssen Vorrang haben: mit den dringendsten und am meisten auf den Kult bezogenen Bedürfnissen beschäftigt man sich während der Rehabilitation. Die übrigen Fragen - die nicht so dringend sind und mit der sich andere qualifizierte Fachleute beschäftigen können - werden identifiziert, kurz angesprochen und dann an auswärtige Instanzen delegiert. Daher gibt es für jemand, der die Rehabilitation verläßt, so hoffen wir, einen Sinn für Struktur, Richtung und Hilfe.

Beendigung des Programmes und Nachbehandlung

Der stationäre Aufenthalte eines Patienten wird beendet, wenn die Mitarbeiter, der Patient und seine Familie zuversichtlich sind, daß der Patient genügend Fortschritte bei der Bewältigung der speziellen negativen Auswirkungen der Kulterfahrung gemacht hat, um in einen normalen Lebensstil außerhalb des Kultes zurückkehren zu können. Oft kommen die Eltern des Patienten oder andere Familienmitglieder zum Zentrum zurück, um den Patienten nach Hause zu begleiten. Vor dem Verlassen des Zentrums nehmen die Familienmitglieder und der Patient an gemeinsamen Beratungsgesprächen teil, die dazu bestimmt sind, die Wiedereingliederung in die Familie und, falls nötig, die Wiederversöhnung mit der Familie zu unterstützen.

Die Mitarbeiter von Wellspring versuchen, den Kontakt mit ehemaligen Patienten durch regelmäßige Briefe und Telefongespräche aufrecht zu erhalten. Gelegentlich werden ehemalige Patienten, denen es besonders gut geht, nach ihrer Rehabilitation aufgefordert, an Konferenzen, Seminaren oder Medienforen über Kulte teilzunehmen, die von anderen Organisationen oder Kirchen veranstaltet werden. Manchmal stellen sich ehemalige Patienten selbst als Referenz- oder Hilfspersonen zur Verfügung, um über ihren ehemaligen Kult zu informieren und/oder bei Interventionen und Beratungen anderer Mitglieder ihre ehemaligen Gruppe (oder anderer Gruppen) zu assistieren.

Vor dem Verlassen von Wellspring erhält jeder Patient, der es wünscht, Richtlinien, wie er einen passenden Gottesdienstort finden kann, der ihm weiterhin zu einem ganzheitlichen Wachsen zu spiritueller Reife beistehen kann.

Etwa sechs Monate nach dem Verlassen von Wellspring wird der ehemalige Patient gebeten, einen der psychologischen Standardtests (den MCMI) zu wiederholen, der beim Eintritt in das Programm durchgeführt wurde. Diese Wiederholung dient zur objektiven Erfassung des Fortschrittes in den dazwischenliegenden Monaten und ist ein guter Indikator für die Wirksamkeit des Wellspring-Programms, indem er zeigt, welche Korrekturen gemacht werden müssen. Eine sorgfältige Analyse dieser Auswertungen, die im Sommer 1989 durchgeführt wurde, zeigte, daß praktisch jeder Patient, der nach Wellspring kam, sich von seiner Kulterfahrung erholt hatte und ein gesundes und produktives Leben führte. Besonders die Beobachtungen von Depression, Abhängigkeit und Angst zeigten eine signifikante statistische Verbesserung.

Alle diese Dinge helfen, den ehemaligen Patienten in seinem Entschluß, den Kult zu verlassen, zu bestätigen und sicherer zu machen, und bestärken seine Anstrengungen für einen verantwortlichen und produktiven Lebensweg.

Schlußfolgerung

Insgesamt sind nachkultische Beratung und Rehabilitation unschätzbare Werkzeuge für die, welche einen Kult freiwillig verlassen haben, die sich einer Ausstiegsberatung unterzogen haben oder das Trauma einer unfreiwilligen Deprogrammierung erlebt haben. Nachkultische Beratung kann bei der Identifizierung von Problemen helfen. Sie kann auch helfen, den Leuten die Furcht vor schweren Schädigungen durch den Kult zu nehmen. Manche Eltern mögen z.B. die Tendenz haben zu dramatisieren: "Ach, mein Sohn wird für den Rest seines Lebens unzurechnungsfähig sein." Nachkultische Beratung ist ein Weg, diese Furcht hinwegzunehmen.

Es folgt eine Liste von Zielen, die von ehemaligen Kultmitgliedern durch Beurteilung und Rehabilitation erreicht werden soll:

1. Verstehen, wie sie durch Gedankenreform beeinflußt wurden

2. Fähig sein, den Grad ihrer eigenen Erschöpfung zu erkennen, und wissen, durch welche Stufe der Wiederherstellung sie sich im Augenblick durcharbeiten

3. Die Natur der Rehabilitation und die Art und Weise, wie sie ihren Bedürfnissen entgegenkommt, verstehen

4. Die Hilfsorganisationen (wie die American Family Foundation und das Cult Awareness Network) und in Beziehung dazu stehende Hilfsprogramme für Kultopfer kennen

5. Die Möglichkeit einer kurzzeitigen fachlichen Beratung durch einen qualifizierten Berater kennen

6. Die Argumente für und gegen eine Rückkehr zu Schule, eine Übersiedlung, das Finden einer Anstellung. das Finden einer passenden Unterstützung und Beratung (z.B. Gruppe ehemaliger Mitglieder, Pastoral, individuelle Therapie) abschätzen können

7. Sich mehr der Familiendynamik bewußt sein, die vor dem Eintritt in den Kult vorhanden gewesen sein mag und um die man sich nun kümmern muß

8. Berufsmöglichkeiten erkennen

Als Schlußfolgerung möchte ich hinzufügen, daß nachkultische Beurteilung und Rehabilitation wirksame und unschätzbare Werkzeuge sind, die neue Einsichten über Beziehungen bringen sowie Möglichkeiten, wieder heil zu werden, bewußt machen können.

Aus: Recovery from Cults, herausgegeben von Michael D. Langone, Ph.D., W.W. Norton & Co, New York, London, 1993. Übersetzung: Friedrich Griess

Referenzen siehe Original