Dr. Paul R. Martin: Cult - Proofing Your Kids
(Wie macht man seine Kinder gegen Kulte widerstandsfähig ?)
Zondervan Publishing House, Grand Rapids, Michigan, 1993
ISBN 0-310-53761-4.

Vorwort

Vor fünfzehn bis zwanzig Jahren konnte ich mich stolz rühmen, wie einer von Davids Männern zu sein, denn ich dachte, auch ich verstünde die Zeit und wüßte, was ich tun sollte (1 Chron 12,32). In meinen letzten Jahren der High School erlebte ich den Schock und den Schrecken, unseren Präsidenten John F. Kennedy zu verlieren. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag. Es war ein Freitag und angesichts der Vorbereitung auf ein großes Basketballspiel an diesem Wochenende wärmte sich die Fan-Band der Wheaton Academy für eine Unterstützungsrally auf. Als der Baritonspieler dieser Band trug ich meinen Strohhut und mein rot und weiß gestreiftes Shirt. Unsere Rally fand jedoch an diesem Tag nicht statt. Statt dessen kam ein Lehrer herein und kündigte uns tieftraurig den Tod des Präsidenten an. Mein jugendlicher Idealismus begann zu zerbrechen.

Einige Jahre später befand sich unsere Generation im Vietnamkrieg, in der Hippie-Revolution, in den Drogen, im Sex und in Heavy Metal Rock and Roll. Überall waren "Blumenkinder". Meine evangelikale Kirche erschien mir kalt und lieblos. Idealismus war nicht gefragt. Einige Jahre später schloß ich mich der "Jesus-Bewegung" an. Das war die Version der christlichen Jugend, ein Hippie oder zumindest gegen das Establishment zu sein. Endlich wurden meine Bedürfnisse für Freundschaft, Lebenssinn und Zugehörigkeit befriedigt.

Während dieser Zeit las ich unersättlich. Ich las wahrscheinlich etwa tausend Bücher. Als Christ kannte ich sehr wohl die Probleme der Welt. Ich hatte die meisten, wenn nicht alle, Bücher von C.S. Lewis, Francis Schaeffer. Jacques Ellul, Os Guinnes, Clark H. Pinnock, B.B. Warfield, Hal Lindsey, G.K. Chesterton, John Warwick Montgomery, Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Søren Kierkegaard gelesen, daneben zahlreiche biblische Kommentare, verschiedene theologische Werke, einige der Kirchenväter und vieles mehr. Ich las auch Bücher über die Kulte, wie James Bjornstad's Counterfeits at Your Door, Kenneth Boa's Cults, World Religions and You, Pat Means's The Mystical Maze und Jan Karel Van Baalen's The Chaos of the Cults, um nur einige zu nennen. Zu dieser Zeit hatte ich die traditionelle Ansicht darüber, was ein Kult ist - jede religiöse Gruppe, die Glaubensansichten und Praktiken vertritt, die klar im Gegensatz zum historischen Christentum stehen, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis ausgedrückt wird.

Ironischerweise wurde ich jedoch von einer evangelikalen christlichen Bewegung mitgerissen, die selbst immer kultischer wurde. In den frühen Siebzigerjahren war die Gruppe informell als "The Blitz" bekannt. Später gab sie sich selbst den Namen "Great Commission International" (GCI) und "Great Commission Church". Einige der kultischen Praktiken, die ich die GCI 1977 ausüben zu sehen begann, waren die Verwendung von Täuschung, der Anspruch, unsere Gruppe habe den einzigen richtigen Weg entdeckt, die Welt zu evangelisieren (eine Praxis, die nach der ersten christlichen Generation verlorenging und die vom Gründer unserer Bewegung wiederentdeckt worden war) und die Unterdrückung jeder Art von Infragestellung oder Konfrontation der Leitung. Nichts, was ich gelesen hatte, bereitete mich darauf vor, die warnenden Zeichen zu sehen, als ich beitrat.

Schließlich weckte mich 1978 endlich die Entdeckung des Fehlens ethischer Standards seitens des nationalen Leiters der GCI auf. Er war imstande, verdeckte Täuschung und direkte Mißinterpretation als wirksame Mittel darzustellen, das Evangelium zu verkünden. Dies infrage zu stellen bedeutete zu spalten. Sieben Monate lang kämpfte ich vergebens darum, daß mir dieser Leiter zuhörte. Die Erfahrung für mich und für meine Frau waren wie die, in einem kommunistischen chinesischen Gefängnis befragt zu werden. Während dieser Zeit erlitt sie eine Fehlgeburt und ich war physisch, mental, emotionell und spirituell erschöpft. Mein Vater, ein evangelikaler Pastor, hörte von diesen Diskussionen und war wütend. Normalerweise ein ruhiger Mann, flackerte sein Zorn auf. Ich werde niemals vergessen, was er über meinen Leiter sagte: "Paul, ich habe in meinem Leben tausende Leute kennengelernt, aber als ich deinen Leiter traf, rann es mir kalt über den Rücken. Er ist der übelste Mensch, dem ich je in meinem Leben begegnet bin .... Er ist ein falscher Lehrer .... er unterdrückt dich."

Zunächst schenkte ich den Worten meines Vaters keine Beachtung; ich war weiterhin loyal zu meinem Leiter, obwohl ich von ihm zurückgewiesen wurde. Aber wegen der Besorgnisse meines Vaters begann ich, mehr Dinge infrage zu stellen. Einige andere in der Gruppe begannen sich zu öffnen. Wir verglichen unsere Aufzeichnungen. Wir entdeckten, daß wir die gleichen Probleme sahen - die Unterdrückung des Infragestellens, ungenaue Interpretation der Schrift und die Verwendung von Täuschung. Wegen beunruhigender Dinge wie diesen verließ ich die GCI im Sommer 1978, um eine Tätigkeit als Lehrer im Geneva College zu beginnen.

Wenn ich aber meine Geschichte meinen christlichen Brüdern und Schwestern erzählte, konnte ich fühlen, daß wenige sie wirklich verstanden. Darüber zu sprechen wurde schmerzhaft. Ich wurde verwirrt und zog mich zurück. Bemerkenswerte Ausnahmen waren die Ältesten in meiner neuen Kirche, die in stiller Unterstützung zuhörten und sich schneller Lösungsvorschläge oder Beurteilungen enthielten.

Später begannen Barbara und ich davon zu hören, daß andere die Gruppe verließen. Wir hörten schmerzliche Berichte von Verletzungen, Verrat, angegriffener Gesundheit und zerbrochenen Träumen. Oft weinte ich. Ich tue es noch immer, wenn ich von den Schmerzen höre. Jene, welche die Gruppe verließen, wurden zu einer notwendigen Unterstützung füreinander.

Viel Gebet und Beratung überzeugten mich, meinen Beruf zu wechseln. Ich wollte mehr über Psychologie und Religion lernen, in der Hoffnung, fähig zu sein, anderen Opfern von Gruppen wie der Great Commission International zu helfen.

Zwei Jahre, nachdem ich meinen PH.D. in psychologischer Beratung erlangt hatte, eröffneten Barbara und ich das Wellspring Retreat und Resource Center. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, daß es ringsum im Lande unzählige Gruppen ähnlich jener gab, die wir vor kurzem verlassen hatten. Es gab überall verletzte Leute. Wir fanden es als typisch, daß sowohl die ehemaligen Kultmitglieder als auch ihre Eltern gewöhnlich verzweifelt nach Hilfe gesucht hatten Für manche dauerte es Jahre, bevor sie jemanden fanden, der die psychologische Dynamik des kultischen Phänomens der Bewußtseinsmanipulation erklären konnte.

Wenn ich an mein umfangreiches Lesen evangelikaler christlicher Literatur zurückdachte, dann wurde mir klar, daß ich nicht einer war, "der die Zeit verstand" und wußte, was er tun sollte (1 Chron 12;32). Ich war nicht darauf vorbereitet, die Gefahren des Kultwesens innerhalb evangelikaler Kreise zu sehen.

Mit "Kultwesen" beziehe ich mich hier nicht nur auf Probleme der Lehre, sondern auch auf solche des Verhaltens. Ich werde die Tendenzen in einigen Gruppen untersuchen, "extreme und unethische Techniken der Manipulation zu benützen, um Mitglieder zu rekrutieren und zu assimilieren und die Gedanken, Gefühle und das Verhalten der Mitglieder zu steuern, als Mittel, die Ziele des Leiters zu fördern." Und wenn ich den Ausdruck "evangelikal" benütze, dann beziehe ich mich auf die Annahme verschiedener christlicher Lehren, wie der vollen Autorität der Bibel, der dreieinigen Natur Gottes, der Rechtfertigung durch den Glauben allein und nicht durch Werke, und die Notwendigkeit einer persönlichen spirituellen Bekehrung.

Wegen meines christlichen Hintergrundes dachte ich, ich würde niemals einem "Kult" beitreten. Aber wie die meisten Evangelikalen dachte ich an Kulte wie die Mormonen, die Moonies, die Zeugen Jehovas und die üblichen fünf bis zehn anderen Gruppen , die gewöhnlich in Büchern über diese Bewegungen aufgezählt sind. Sicherlich war ich nicht auf die Gefahren des Legalismus innerhalb evangelikaler Kreise vorbereitet. Für mich bedeutete Legalismus alle die "Tu es nicht" - negative Regeln über die Verwendung von Makeup, Tanz, Kino, Schwimmen am Sonntag, Verabredungen und andere triviale Dinge. Wenig wußte ich darüber, daß es einen Legalismus der "Tu es" geben könnte - lies die Bibel, teile deinen Glauben täglich anderen mit, mache andere zu Jüngern, studiere das Wort und bete dauernd. So gut diese Dinge an und für sich sind, wenn sie in einen Kontext von Verpflichtungen gestellt werden, mit dem sich daraus ergebenden Schuldgefühl wegen Nichterfüllung, dann kann die "Tu es" - Version des Legalismus ebenso tödlich sein wie die "Tu es nicht" - Version. Man weiß einfach nie, wieviel genug ist.

Verpflichtungen und Hingabe wurden bei meinem Aufwachsen so sehr betont, daß ich absolut keine Abwehrkräfte hatte, wenn ich von der Great Commission International herausgefordert wurde, "mich Gott ganz hinzugeben". Niemand sagte mir jemals, daß es bezüglich gläubiger Hingabe mögliche Gefahren geben könnte. Niemand warnte mich jemals vor den Feinheiten der Einflußfaktoren und den erschreckend mächtigen Techniken, die bei der Gedankenreform benützt werden. Die Feinde, vor denen wir uns hüten sollten, so lernten wir, als wir aufwuchsen, waren jene, die marktschreierisch offensichtlich waren. "Klügere" Feinde wurden, wenn überhaupt, selten erwähnt.

Dies führt mich zu einem wichtigen Punkt. Es wurde zu einem Cliché, zu sagen, daß unsere Welt in großem Aufruhr ist. Oft hören wir vom "spirituellen Zusammenbruch des Westens" und der "moralischen Malaise in unserer Gesellschaft". Alexander Solzhenitsyn sagte, die westliche Zivilisation sollte "westlich heidnisch" statt "westlich christlich" genannt werden. Er stellt den Verlust der moralischen Basis unserer Gesellschaft fest.

Als Evangelikale sind wir so über den Niedergang der moralischen Werte, das Anwachsen des Säkularismus und des New-Age-Denkens besorgt, daß wenige wegen der ernsten Gefahren Alarm schlagen, die durch jene hervorgerufen werden, die derzeit moralische Werte, Spiritualität und Evangelismus fördern - jedoch gleichzeitig kultisches Verhalten verteidigen. Wir müssen das Kultproblem im Kontext des Wiederentstehens totalitärer Systeme sehen. Ein solcher Totalitarismus (Versuche eines autokratischen Leiters oder einer Hierarchie, alle Aspekte des Lebens der Leute zu kontrollieren) ist gegenüber religiösen Grenzen äußerst unempfindlich, und dies schließt Grenzen des evangelikalen Christentums mit ein.

Es war wirklich traurig und erschreckend, das Format der Leute zu sehen, die nach Wellspring kamen. Ich sehe hier einige der besten, strahlendsten und attraktivsten jungen Menschen unserer Nation. Einige waren Abschiedsredner unserer High Schools, die meisten waren in den obersten zehn Prozent der Abschlußklasse, und viele waren Studenten an prestigereichen Colleges und Universitäten, als sie auf den Ruf einer bestimmten Kultgruppe reagierten. Sie wurden durch die Herausforderung von Hingabe, Spiritualität und Moral hineingelockt. Nun stehen ihnen Monate, möglicherweise auch Jahre der Wiederherstellung bevor. Warnte sie niemand? Versuchte jemand, sie vorzubereiten? Seinerzeit warnten Jesus, Paulus, Petrus und Johannes vor falschen Propheten, falschen Lehrern, welche versuchen würden, die Auserwählen zu verlocken. Heute aber werden wir nicht in gleicher Weise gewarnt.

Daher schreibe ich dieses Buch, um Alarm zu schlagen. Christen haben einen großen Feind übersehen - den Feind, der als evangelikaler Christ verkleidet ist. Viele der derzeitigen Schäden werden durch den subtilsten Irrtum verursacht. Große Gefahren, die als neutral oder sogar nichtreligiös erscheinen, bedrohen die Ahnungslosen, und einfacher christlicher Glaube allein bietet wenig Schutz gegen die Verlockung.

Wenn dieses Buch auch nur eine Person - vielleicht Ihr Kind - davon abhalten kann, dieser Art von Gruppen beizutreten, die ich beschreibe, oder die Wiederherstellung nur eines einzigen ehemaligen Mitglieds beschleunigen kann, dann werden meine Träume und meine Gebete beantwortet worden sein.