Dr. Paul R. Martin: Cult - Proofing Your Kids
(Wie macht man seine Kinder gegen Kulte widerstandsfähig ?)
Zondervan Publishing House, Grand Rapids, Michigan, 1993
ISBN 0-310-53761-4.

Kapitel 6: Die gesunde Familie

"Die passende Zeit, den Charakter eines Kindes zu beeinflussen, ist etwa hundert Jahre vor seiner Geburt."
- Dean Inge in High Risk:
Children wihout conscience

Während der letzten zwölf Jahre habe ich gut mehr als hundert Familien beobachtet, die ein oder mehrere Kinder an einen Kult oder an eine Randkirche verloren haben. Kann ich nun vorhersagen, bei welcher Art von Familie es wahrscheinlicher ist, dass eines ihrer Mitglieder sich einem Kult anschließt? Nicht wirklich. Kultmitglieder kamen aus allen Arten von Familien.

Die ersten Leute, mit denen ich gearbeitet habe, waren verheiratet. Der Mann, Dennis, kam aus einer guten christlichen Familie. Seine Familie war wohlgebildet und sein Vater war Lehrer. Dennis wurde angeworben, als er ein evangelikales christliches College besuchte. Seine Frau Linda kam von einer in ihrer Gemeinde wohlgeachteten Familie. Ihr Vater hatte ein Doktorat, ihre Mutter schien etwas emotional veranlagt zu sein, aber sie funktionierte gut. Keine der beiden Familien konnte als ernstlich gestört betrachtet werden.

Die zweite Person, die ich behandelte, kam ebenfalls aus einer "normalen" Familie. Der Vater war ein prominenter Behördenleiter und hatte dafür einige Auszeichnungen bekommen. Er besaß ein großes und erfolgreiches Einzelhandelsunternehmen. Auch die Mutter war in ihrer Gemeinde aktiv und beschäftigte sich eingehend mit dem Leben ihrer Kinder. Die Familie konnte in keiner vernünftigen Weise als gestört beschrieben werden. Es gab keine Scheidung, keine Trennung, keinen Drogen- oder Alkoholmissbrauch, keinen Kampf und keine Beschimpfungen oder Zeichen von Arbeitssucht.

Die Parade der Familien, die ich Laufe der Jahre behandelte, zieht an mir vorbei. Viele Kultmitglieder kamen aus gestörten Familien, wo es Scheidung, Alkoholprobleme oder Schlimmeres gab. Oft ist dies aber nicht so. Die warme und liebevolle Familie eines einfachen Zimmermanns verlor ihren Sohn an einen Kult. Eine andere gefühlvolle und aufmerksame Familie sah ihre schöne Tochter von einer gefährlichen Gruppe angeworben. Ein Vater in hoher Regierungsstellung eines anderen Landes erfuhr, das sein Sohn einem Kult beitrat, als er ein College in Kanada besuchte. Eine sehr prominente Familie aus dem mittleren Westen sandte ihren Sohn nach Wellspring.

In unserem Institut in Wellspring haben wir mit vielen Familien gearbeitet, die Mitglieder an einen Kult verloren hatten. Unsere Erfahrung zeigt im Einklang mit öffentlicher Forschung die folgenden breiten Charakeristiken von Familien mit Kultmitgliedern:

Was bedeutet nun diese Information über Familien von Kultanhängern? Die Ergebnisse erlauben uns sicher nicht vorherzusagen, wer sich einem Kult anschließen wird. Jene, die Gruppen von Alternativreligionen beitreten, kommen aus einer weiten Verschiedenheit von Milieus und weisen einen weiten Bereich psychologischer Gesundheit auf. Die Ergebnisse fordern auch einge Mythen heraus, welche das Kultwesen umgeben und in unserer heutigen Gesellschaft so gängig sind (siehe Kapitel 4). Wir neigen dazu, den Opfern die Schuld für ihre Lage zu geben. Wir wollen Opfer als weniger wert, weniger gesund und weniger intelligent ansehen als uns selbst. Wir fühlen uns einfach unwohl, wenn wir Kultopfer als "Leute wie wir selbst" ansehen sollten. Wir leben zu oft in der irrigen Meinung, dass Kultvereinnahmung niemals jemandem in unserer Familie zustoßen könnte. Aber es kann, und oft geschieht es auch, außer wir geben uns genügend Mühe, unsere Kinder und andere Nahestehende kultfest zu machen.

Alle Eltern müssen darauf vorbereitet sein, und sie können dies am besten tun, wenn sie das Folgende im Auge behalten:

In diesem Kapitel werden wir die Wichtigkeit guter Kommunikation innerhalb der Familie für das Kultfest-Machen von Kindern behandeln.

Die Wichtigkeit der Kommunikation

Donald Sloat hat zwei ausgezeichnete Bücher mit den Titeln The Dangers of Growing Up in a Christian Home (Die Gefahren des Aufwachsens in einer christlichen Familie) und Growing up Holy and Wholly (Heilig und ganz aufwachsen) geschrieben.[6] Im zweiten Buch argumentiert Sloat in schokierender Weise, dass die Muster, die man in vielen evangelikalen christlichen Familien sieht, denen in Familien von Alkoholikern sehr ähnlich sind. Er erwähnt vier Regeln in evangelikalen Familien, welche die Kommunikation unterdrücken und klar störend sind.[7]

Regel #1: Sage nicht, sage

Diese Regel verlangt, dass man seine wahren Gefühle verleugnet, indem man nicht sagt, was man wirklich denkt und fühlt. Das ist systematisierte Unehrlichkeit - ein Versuch, die Sicherheit innerhalb der Familienstruktur aufrecht zu erhalten. Für Sloat ist es eine "subtile Zurückweisung des Selbst, das die Familie durchdringt ..... und es geschieht so, dass es als nicht schädigend erscheint, denn es wird im Namen Gottes als spirituelle Qualität dargestellt." Christliche Eltern (oder auch Kultführer) können die biblische Mahnung "Kinder, gehorcht euren Eltern" (Eph 6,1) als Mittel benützen, eine Diskussion zu beenden oder ein Kind daran zu hindern, seine wahre Meinung zu sagen oder es dazu zu bringen, sich den Wünschen der Eltern zu fügen.

Der "sage"-Teil der Regel unterdrückt weiterhin wahre Meinungen und Gedanken, indem er zu sagen zwingt, was die Eltern (oder Leiter) hören wollen. In einer Familie mag es sein, dass man ein Kind dazu bringt, zu sagen: "Ja, Mutter, ich mag das Hemd, das du mir gekauft hast", oder in einem religiösen Kult: " Ja, ich zeige einen Geist der Unzufriedenheit." Jene, die mit diesen Regeln aufwachsen, lernen nicht, ihre eigenen Ansichten und Überzeugungen zu schätzen, sondern sie versuchen statt dessen, mit ihrem Leben den Autoritätspersonen zu gefallen.

Regel #2: Vertraue nicht, vertraue

Wenn man anderen vertraut, einem zu sagen, was man denken und glauben soll, aber nicht seinen eigenen Meinungen oder seinen Fähigkeiten zu denken oder zu urteilen, entsteht ein psychologisches "splitting". Dieses bewirkt, dass man die Ansichten anderer schätzt, aber seinen eigenen inneren Glaubenvorstellungen und Werten nicht vertraut. In einer Familie wirkt sich das auf viele verschiedene Weise aus, wenn Kinder entmutigt werden, Zweifel über ihren Glauben oder ihre Unzufriedenheit mit der Kirche auszudrücken. Wenn Zweifel nicht innerhalb der Familie durchgearbeitet werden, dann kann ein "splitting" auftreten, in dem das Kind einen scheinheiligen Lebensstil entwickeln kann. Wenn jedoch diesem Kind erlaubt wird, seinen eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, scheinbare Widersprüche und verwirrte Gefühle aufzuarbeiten, dann kann ein wahrer und folgerichtiger Glaube entstehen. Wenn wir ferner unseren Kindern erlauben, ihre eigenen Fragen zu schätzen und ihren eigenen Gefühlen zu trauen, dann entwickelt sich in ihnen eine realistischere Ansicht ihrer eigenen Stärken und Schwächen. Das Gesetz der Abhängigkeit kann durchbrochen werden und persönliche Verantwortung sich zu dem entwickeln, was Donald Sloat eine "kräftige psychologische Autonomie" nennt, wenn christliche Gnade eher als psychologische Kontrolle sich entfalten darf.

Regel #3: Fühle nicht, fühle

Christliche Familien können sich wie alle anderen schuldig machen, Kinder am Ausdruck ihrer Gefühle zu entmutigen oder diesen zu verbieten. Ein weiteres "splitting" kann hier erfolgen, wenn jemand "spiritell" zu sein hat, um den Erwartungen anderer zu entsprechen. Wenn der Schwerpunkt auf "Kontrolle" liegt, wie es in manchen Familien und in den meisten Kulten der Fall ist, dann läuft die Erziehung falsch und die Kinder lernen, ihre eigenen wahren Gefühle zu verbergen. Die dritte Regel drückt sich typisch aus in "fühle den Schmerz nicht ..... sei hart und handle so, wie ich es dir sage." Einige christliche Familien und christliche Kultgruppen sind darin Experten, diese internen Splits zu erzeugen, denn die meisten Menschen wünschen die Zustimmung ihrer Eltern oder Kirchenführer. Um der Liebe und Akzeptanz willen lernen sie, ihre Gefühle des Zorns und des Verrats zu unterdrücken, um den Eindruck zu vermitteln, alles sei in Ordnung. Dies erzeugt gehorsame und scheinbar gesunde Anhänger in einer Kultgruppe und "brave" Kinder in einer Familienstruktur. Außer der offensichtlichen Verwirrung und Scheinheiligkeit, die diese Situation mit sich bringt, zerstört dies das Selbstkonzept und das grundgelegende Bedürfnis, sich als bedeutend und sicher zu fühlen.

Regel #4: Wünsche,wünsche nicht

Diese Regel erzeugt eine gefühlsmäßige Trennung, indem sie suggeriert, man solle persönlich nicnts wünschen, was Gott nicht wünsche. Deshalb müsse man nicht nur allen seinen Wünschen entsagen, sondern man solle überhaupt keine Wünsche haben. Du sollst nur wollen was Gott will - oder was deine Eltern oder deine Kultführer wollen. Das Ich wird als fast völlig sündhaft aufgefasst und das Ziel des braven Kindes und des wahren Jüngers ist die Verleugnung aller persönlichen Wünsche. Sloat stellt fest, dass viele in der Kirchengemeinde, die als "spirituelle Helden und selbstlose Geber gesehen werden, tatsächlich von Vorschriften abhängige Leute sind, die ihre eigenen Bedürfnisse erfüllen, indem sie andere retten." "Spirituelles" Leben unter dieser Regel kann insofern destruktiv sein, als es Leute davon abhält, sich als ganzheitliche Individuen zu entwickeln. Die "Wünsche, wünsche nicht" - Regel erlaubt oft Kirchenbesuchern, ihre berechtigten grundlegenden menschlichen Bedürfnisse zu verleugnen - alles im Namen der "Spiritualität". Dies verursacht unnötigen Stress, unnötige Schuldgefühle und unnötige Selbstverleugnung.

Wahre Heiligkeit steht nicht im Widerspruch zu persönlicher Ganzheitlichkeit. Jede Art von Heiligkeit, die auf einer rigiden Liste von Regeln beruht, welche die Leute depressiv, unglücklich und mit einem vorgetäuschten Lächeln zurücklässt, ist weder biblische Heiligkeit noch psychologische Ganzheitlichkeit. Christus ähnlich zu sein heißt sowohl psychologisch wohl ausgerüstet als auch heilig zu sein. Es ist wahr, dass der Stress des täglichen Lebens, Traumata, Unfälle, Krankheiten und Verluste jemanden traurig, deprimiert und ängstlich zurücklassen können. Dies ist Teil der gefallenen menschlichen Befindlichkeit, mit der Gnade Gottes können wir mit diesen Dingen fertig werden. Aber es ist wahrlich beunruhigend, wenn Depression, Trauer und Besorgnis durch unsere Anstrengungen verursacht sind, göttlich zu werden. Das ist sowohl im spirituellen als im psychologischen Sinn ungesund.

Ganz im Gegenteil sind gesunde Familien durch die folgenden Eigenschaften gekennzeichnet, die von Sloat in drei Hauptkategorien eingeteilt werden:

  1. Grundlegende Glaubensvorstellungen (spirituelle Werte)

  2. Die gesunde Familie
    • bietet ein gemeinsames religiöses Innerstes
    • lehrt die Bedeutung von richtig und falsch
    • achtet Dienste für andere
    • lässt Probleme zu und sucht um Hilfe, sie zu lösen

  3. Interpersonale Beziehungen

  4. Die gesunde Familie
    • fördert den Sinn des Vertrauens
    • bestärkt und unterstützt alle Mitglieder
    • fördert Kommunikation und Zuhören
    • lehrt Respekt gegenüber anderen
    • respektiert gegenseitig die Privatsphäre

  5. Allgemeine Familienkultur

  6. Die gesunde Familie
    • stellt zwischen den Mitgliedern Gleichgewicht her
    • entfaltet einen Sinn für gemeinsame Verantwortung
    • zeigt Sinn für Spiel und Humor
    • fördert das Gespräch in der Familie
    • hat einen starken Sinn für Familienrituale und -tradition.[8]

In diesem Kapitel haben wir gesehen, dass Kultanhänger aus allen Typen von Familien kommen, gesunden und gestörten. Wir haben auch gelernt, dass Anwerbung durch einen Kult viel eher in Verbindung mit einer schweren Krise im Leben eines jungen Menschen geschieht. Gesunde Familien, wie sie im letzten Teil dieses Kapitels beschrieben wurden, könnten in der Lage sein, zwei Dinge zu tun, um ihre Kinder kultfest zu machen, die eine gestörte Familie eher nicht kann. Erstens ermöglicht eine gesunde Familie bessere Kommunikation und weiß viel eher über ernste Stresssituationen und Krisen ihrer Kinder Bescheid, und sie würden mit diesem Kind darüber sprechen. (Wegen des Hemmschuhs der Nicht-Kommunikation in der Familienstruktur dürften gestörte Familien sogar weniger Möglichkeiten haben, überhaupt etwas über die Krise zu wissen.) Zweitens wissen gesündere Familien nicht nur mehr über die Krise eines Familienmitglieds, sondern sie haben auch darüber gesprochen und einen Sinn für Trost und Hilfe entwickelt. Gesündere Familien sind auch eher bestrebt, fachliche Hilfe von außen zu suchen, um ihrem Mitglied zu helfen, die persönliche Krise vollständiger zu überwinden.

Es ist also sehr wahrscheinlich, dass in gesünderen Familien die Mitglieder eher davor geschützt sind, sich einem Kult anzuschließen. Diese Familien kultivieren die Werkzeuge, die benötigt werden, um die Familie zu erziehen: Gemeinschaft, ausgeglichene Kommunikation, ein Sinn für gemeinsame religiöse Moral und ein Sinn für Verantwortung füreinander. Edith Schaeffer erinnert uns daran, dass die gesunde Familie eine "ökologisch ausgeglichene Umgebung für das Wachsen von menschlichen Wesen ist."[9] Aber die Anstrengungen auch der gesündesten Familie werden zunichte, wenn sie mit der Dynamik destruktiver Kulte nicht vetraut sind. Alle unsere Kinder sind in Gefahr.

Anmerkungen.
[1] Mark I. Sirkin and Bruce A. Grellong, "Cult vs. Noncult - Jewish Families: Factors Influencing Conversion," Cultic Studies Journal 5, no. 1 (1988): 2; Lita Linzer Schwartz and Florence W. Kaslow, " The Cult Phenomenon Historical, Sociological, and Familial Factors Contributing to their Development and Appeal," Marriage and Family Review 4, nos 3 & 4 (Fall/Winter 1981): 3-15.
[2] Neil Maron and Joel Bravermann, "Family Environment as a Factor in Vulnerability to Cult Involvement," Cultic Studies Journal 1 (1988): 23.
[3] Sirkin and Grellong, 2.
[4] Ibid., 2, 18.
[5] Maron and Bravermann, 31.
[6] Donald L. Sloat, The Dangers of Growing Up in a Christian Home (Nashville, Tenn.: Thomas Nelson, 1986); Growing Up Holy and Wholly (Brentwood, Tenn.: Wolgemuth and Hyatt Publishers, 1990).
[7] Sloat, Growing Up Holy and Wholly, 105-64. Used by permisson.
[8] Ibid., 39-40. Used by permission
.
[9] Edith Schaeffer, What is a family? (Old Tappan, N.J.: Fleming H. Revell, 1975), 37.