Lars Grip, Sekretär des Gutachtens I God Tro [Im guten Glauben]

Interesselose Stille nach dem schwedischen Gutachten

Frankreich, Belgien, die Schweiz und Österreich sind restriktiv und nehmen eine feste Haltung gegenüber geschlossenen religiösen Gruppen, "Sekten", ein. Italien, Dänemark, Griechenland und England betrachten die Sekten als kein Problem. Deutschland liegt in der Mitte.

Dies ging unter anderem aus dem Vortrag des Sekretärs für das schwedische Gutachten I God Tro hervor.

Mit Freude leihe ich den Namen des schwedischen Gutachtens, "I God Tro", der Konferenz. "I God Tro" hat eine doppelte Bedeutung. Einen Glauben zu haben ist etwas Gutes, aber man kann auch getäuscht werden, und da handelt man "im guten Glauben", ohne die dahinterliegenden Faktoren zu kennen.

Gutachten - und Schweigen

Es scheint so lange her zu sein. 1998 kam der Vorschlag, bei dem ich Sekretär war. In Schweden wurde es nach unserem Gutachten um diese Frage ganz still. Nicht ein einziger unserer Vorschläge wurde verwirklicht. Die Erklärung dafür mußte entweder sein, daß wir alles gesagt hatten, was man sagen konnte, oder daß es kein Interesse gab. Leider war wohl das Letztere die richtige Erklärung.

Als wir mit der Arbeit begannen, verstanden wir, wie belastet der Bereich war: Seid ihr dafür oder dagegen? Alle stürzten sich auf uns und wollten "die anderen", "die andere Seite" verdächtigen. Es war schwierig zu navigieren und seine intellektuelle Integrität zu behalten.

Der Auftrag lautete, zu klären, ob Menschen, die neugeistige Bewegungen verlassen hatten, Unterstützung brauchten. Und was die Gesellschaft in diesem Fall tun könne, um zu helfen.

Dies war eine politisch korrekte Weise, die Sache auszudrücken. Selbstverständlich war man interessiert, einen Überblick über den Umfang der neugeistigen Bewegungen zu erhalten und zu erfahren, ob man diese als eine Gefahr für die Gesellschaft oder für die Demokratie betrachten könne. Es wurde genau betont, daß man im Gutachten auf keine Weise mit der Religionsfreiheit in Konflikt kommen dürfe.

Wir gelangten zur Überzeugung, daß die Mitgliedschaft in sogenannten Sekten - ein Wort, das wir nicht verwenden wollten - eine Antwort auf die Suche nach Sinn in einer unruhigen und gespaltenen Zeit ist. Immer mehr Menschen glauben nicht an Gott im traditionellen Sinn. Eine eher privatisierte und erlebnisorientierte Geistigkeit scheint zuzunehmen, oft an die Natur oder an Gefühle gebunden. Ursache: Die politischen Ideologien haben keine Erklärungskraft und sind nicht mehr attraktiv. Wenn die Welt in Teile zerfällt, dann entsteht ein ideologisches Vakuum. In der narzistischen Gesellschaft ist der Mensch nach den individuellen und privaten Erlebnissen orientiert. Die private Erfahrung wird wichtiger als institutionalisierte Erfahrungen und Beurteilungen in traditionellen Formen.

Wir fanden zwei Tendenzen als Reaktion gegen die Vielfalt unserer Zeit, über die eine Übersicht zu gewinnen so schwierig ist.

Die erste: Suchen nach einfachen Erklärungen, die ein Gefühl von Sicherheit verleihen. Hier können autoritäre Bewegungen attraktiv sein. Ein starkes Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit einfachen, deutlichen Regeln verleiht ein Gefühl von Sicherheit. Ein deutliches Feindbild und eine stark profilierte Erklärung, wie die Welt funktioniert, ist ein Schutz gegen Verwirrung und schafft Sicherheit.

Die andere Tendenz: Ein Streben nach der inneren Welt, wo die individualsierte Geistigkeit - "ich bin religiös, aber auf meine eigene Weise" - Vertrauen schenkt, das auf innerer Erfahrung beruht.

Was geistige Bewegungen betrifft, so kann man von einer Flucht von der Freiheit und von demokratischen Weisen sprechen, das Leben zu bewältigen.

KULT - Kompetenzzentrum für Weltanschauungs- und Glaubensfragen

Der Umschlag zu unserem Gutachten "I God Tro" stellt August Strindbergs Gemälde "Die Stadt" dar. In einer unruhigen Landschaft schimmert in der Ferne goldgelb die verlockende Stadt.

Wir haben ein vollständige Liste aller Glaubensgemeinschaften im Lande ausgearbeitet. Wir wollten absolut keine einzelnen Glaubensgemeinschaften als wichtiger als andere behandeln. Alle waren auf derselben Liste, alle von der katholischen Kirche bis zu Hare Krishna. 120 Stück. Wenn man dann die neureligiösen Bewegungen als Gruppen definiert, die sich in den letzten Jahren etabliert haben, dann handelt es sich um insgesamt 50 000 - 60 000 Mitglieder in Schweden. Sollte man New Age - Bewegungen und Gruppen mit psychologischen Techniken inkludieren, dann werden es noch viel mehr.

Man hat das Recht, zu glauben, was man will. Die Gesellschaft und der Staat haben kein Recht zu sagen, was richtig und was falsch ist, das liegt im Begriff der Religions- und Glaubensfreiheit.

Unsere Schlußfolgerung war, daß die Anzahl der Menschen, die in einer Krise landen, nachdem sie eine geschlossene Glaubensgemeinschaft verlassen haben, hundert pro Jahr ist. Einhundert Menschen pro Jahr suchen Hilfe für eine Krise, welche direkt damit in Zusammenhang steht, daß sie eine solche Gemeinschaft verlassen haben. Behandlungsheim wird keines benötigt. Hingegen schlugen wir KULT - Kunnskapscentrum för livsåskådnings- och trosfrågor [schwed., Kompetenzzentrum für Weltanschauungs- und Glaubensfragen] vor, da Mangel an Kommunikation zu Mißverständnissen und Schrecken vor Sekten führt. Ein Treffpunkt für Glaubende und Nichtglaubende, wenn man will - um Konflikte, Spannungen und Mythen zu vermindern. Wir wollen Ausbildung, Konferenzen und Kurse, um moralischer Panik entgegenzutreten. Da dieser Bereich so von Emotionen erfüllt und so polarisiert ist, ob man nun dafür oder dagegen ist, sind Kompetenzen ohne Beurteilung und mit Dialog wichtig, um paranoide Mißverständnisse auf beiden Seiten zu vermeiden. Bisweilen kann die sogenannte Anit-Kult-Bewegung dieselben Charakteristika haben wie sogenannte Sekten. Die sehen Feinde hinter jedem Busch.

KULTs Aufgabe sollte auch sein, Forschung in diesem Bereich zu stimulieren.

Kinder, die in geschlossenen Gruppen leben, sollen dieselben Rechte haben wie alle anderen Kinder. Gleichzeitig darf die Gesellschaft sie nicht stigmatsieren. Die Umwelt muß respektvoll sein und über ihre Haltungen informieren. Lehrer und anders Personal, das mit Kindern zu tun hat, müssen bezüglich dieser Fragen ausgebildet werden. Die Sozialdienste sind verpflichtet, herauszufinden, ob körperliche Abstrafung und Mißhandlung von Kindern in geschlossenen Gruppen vorkommt. Der Einblick in Freischulen muß verstärkt werden.

Man darf glauben, was man will. Es ist zulässig, an eine Gemeinschaft zu glauben, in der es keine Demokratie gibt. Aber die Religionsfreiheit hat ihre Grenzen: Sie darf nicht mit demokratischen Rechten und Freiheiten in Konflikt geraten, und man darf keine Gesetze brechen. Das dürfen weder religiöse Bewegungen noch andere. Unsere Schlußfolgerung war, daß die Gesetze ausreichen, daß sie aber nicht genügend Schutz davor bieten, was wir ungebührliche Beeinflussung oder Manipulation (improper influence) nannten.

Andere Länder

Wir sahen uns auch die Verhältnisse in einigen anderen Ländern an. Einige Stichworte:

Frankreich: Eine harte Haltung. Les Sectes en France von 1996 baute auf der Direction des Renseignements généraux auf, einer Organisation unter dem Innenministerium, und definierte Sekten. Als gefährlich werden mentale Destabilisierung, wirtschaftliche Forderungen, abgesondert außerhalb der Gesellschaft zu leben, antisoziale Doktrinen usw. betrachtet. Man meint, es fänden sich 180 solche Gruppen und mindestens 800 Satellitengruppen. Insgesamt haben diese Sekten 160 000 Mitglieder. Dem Gutachten zufolge sollen sie nicht als Religionen betrachtet werden, weil sie keine religiösen Ziele haben. Bereits 1995 gab Alain Vivien im Auftrag des Ministerpräsidenten "Les Sectes en France" heraus. Dies führte dazu, daß ein ständiges interministerielles Komitee gegründet wurde, das wie eine Sicherheitspolizei arbeitet. Man meinte, man benötige keine neuen Gesetze [1]. Aber Jugendliche müßten in der Schule Information bekommen. Es wurde eine von Staat finanzierte Kampagne in Gang gesetzt und öffentliche Angestellte wurden geschult.

Belgien: Das belgische Parlament präsentierte 1996 einen Bericht, ziemlich ähnlich dem französischen. Sie zählten 180 gefährliche Sekten auf, genau wie in Frankreich. Der Sozialminister erhielt harte Kritik, weil er nicht früher darauf hingewiesen hatte, wie gefährlich Sekten seien. In Belgien wurde im Mai 1999 ein "Observatorium" eingerichtet.

Schweiz: Der Kanton Genf veröffentlichte 1997 eine Anthologie mit acht Schweizer Experten. Auch hier wurde eine Liste veröffentlicht. Man meinte, die Gesetzgebung sei kein Hindernis, um gegen Sekten zu agieren. Eine öffentliche Information wurde in Gang gesetzt und ein unabhängiges Organ, InfoSekta, etabliert, um die Ereignisse zu verfolgen.

In allen drei Ländern - Frankreich, Belgien und der Schweiz - war die Debatte intensiv.

Österreich: Das Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie veröffentlichte eine Broschüre "Sekten - Wissen schützt!", wie man seine Kinder vor Sekten schützt. Dies führte dazu, daß das Ministerium täglich etwa 2000 Anrufe erhielt. Das Bildungsministerium verteilte die Schulbroschüre "Gemeinschaft kann gefährlich werden". Hier rechnet man damit, daß 100 000 bis 150 000 Menschen in Sekten involviert sein können.

Italien: Sehr liberal. Ein Polizeibericht, der geheim bleiben sollte, gelangte an die Presse. Die Schlußfolgerung im Bericht war, daß es kein einziges Gerichtsverfahren gegen Sekten gab. Und neulich wurde ein noch liberaleres Gesetz über religiöse Aktivitäten beschlossen.

Deutschland: 1998 erschien ein Bericht, der davon ausgeht, daß Sekten gefährlich sind. Sie können zu Familienproblemen und Betrug führen. Die Anschauungen der Sekten wichen von denen der Gesellschaft ab und ihre Lebensstil sei ein anderer, meint man. Aber es ist nicht möglich zu wissen, wie in Sekten Gesetzesbruch begangen wird, besonders nicht in Deutschland, weil es dort so viele Psychogruppen gibt, die verschiedene therapeutische Techniken für individuelle Entwicklung anbieten. Der "Psychomarkt" in Deutschland hat einen Umsatz von etwa 18 Milliarden deutsche Mark. 40 esoterische Zeitschriften haben eine Gesamtauflage von 2,9 Millionen Exemplaren. Der Kommission zufolge gibt es keine Gehirnwäsche. Psychologische Beeinflussung kann man nicht auf einzelne Ursachenerklärungen reduzieren. Die folgenden Gruppen werden als problematisch angesehen: Ananda Marga, Sant Thakar Sing, Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis (VPM), die Scientologen, ISKCON, Moon, Jehovas Zeugen und Children of God. Die Schlußfolgerung lautet, daß es keine Bedrohung der Gesellschaft gibt. Die Scientologen werden nicht als religiöse Bewegung angesehen, u.a. weil sie für ihr Evangelium Bezahlung verlangen. Sie werden einer besonderen Observierung von seiten des Staates unterworfen. Wenn eine Bewegung als für die Gesellschaft gefährlich angesehen wird, gibt es einem besonderen Gesetz zufolge -Verfassungsschutz - die Möglichkeit, ihre Aktivitäten zu stoppen, wenn sie eine Bedrohung gegen die Demokratie und die Verfassung darstellen.

Das Gutachten schlug eine Organisation vor, die von der Gesellschaft finanziert wird, um die Qualität aller Beratungsstellen zu verbessern, die es überall in Deutschland gibt. Diese Organisation soll auch die Initiative zu Forschung ergreifen und öffentliche Angestellte ausbilden. In dem Gutachten wurde auch ein Gesetz für psychotherapeutische Qualität vorgeschlagen - eine Lizenz, die gegen Quacksalberei und New Age gerichtet ist. Es wurde auch eine neue Gesetzgebung zum Schutz der Interesse der Konsumenten im Therapie- und Beratungsbereich vorgeschlagen. Die Grünen gerieten in der Kommission in Opposition zu den anderen Parteien. Sie meinten, daß empirische Fakten fehlten, daß es keine passenden Definitionen gebe und daß es sich um moralische Panik handle.

England: Es gibt keine starke Antikultbewegung und schwaches Interesse von seiten der Regierung.

Dänemark: Eine sehr liberale Tradition. Deshalb haben die Scientologen dort ihr europäisches Zentrum. Es gab auch ein Dialogzentrum, eine Antikultbewegung auf christlichem Grund, aber diese dürfte geschlossen werden. [2]

Mit anderen Worten: Frankreich, Belgien, die Schweiz und Österreich sind restriktiv und nehmen eine feste Haltung gegenüber geschlossenen religiösen Gruppen, "Sekten", ein. Italien, Dänemark, Griechenland und England betrachten die Sekten als kein Problem. Deutschland liegt in der Mitte.

In den USA gibt es die AFF - American Family Foundation - mit Michael Langone als treibende Kraft in Naples, Florida. In USA gilt das First Amendment in der Verfassung knallhart, daher können alle Arten von Bewegungen frei operieren. Wahrscheinlich arbeiten viele Scientologen in der Staatsverwaltung. Hier ist jedoch in letzter Zeit eine Entpolarisierung erfolgt. Die "Antikultbewegung", AFF, und neue religiöse Bewegungen besuchen die jeweiligen Konferenzen der anderen und ein gegenseitiges Verständnis ist dabei, entwickelt zu werden. Hare Krishna und andere Bewegungen haben Übergriffe erkannt, aber geloben, sich zu bessern.

Die EU nahm am 22. Mai 1984 eine Resolution an und am 29. Februar 1996 eine andere. Man benützt das Wort "Sekte", ohne dieses mit einer Beurteilung zu belasten. Man fordert die Mitgliedsländer auf, keine Maßnahmen gegen die Gruppen zu beschließen - wegen der Religionsfreiheit -, ohne das Individuum zu berücksichtigen. Neue religiöse Bewegungen werden nicht als Bedrohung der Demokratie betrachtet. Deshalb will man auch der gemeinsamen Polizeiorganisation Europol keine besonderen Aufgaben übertragen.

Norwegen: Handelt, statt zu reden

Es ist gut, daß dieses Projekt in Norwegen in Gang gesetzt wurde. Es ist gut, daß es von der konkreten Wirklichkeit handelt, statt Gutachten zu erstellen. Ihr tut etwas, statt nur zu reden. Alles Gutes für das Go-On-Projekt.

Anmerkungen:

[1] Frankreich beschloß jedoch bekanntlich im Juni 2001 das Loi About-Picard. Anm. d. Übers.

[2] Auf Anfrage teilte das DCI mit, daß es zwar sein Büro in Kopenhagen geschlossen habe, ansonsten aber weiterhin telefonische Auskünfte erteile, die Zeitschrift "Den Nye Dialog" viermal jährlich herausbringe und Treffen, Vorträge und Studientage veranstalte. Anm. d. Übers.