Aftenposten, Samstag 30. Juli 1994 "På innsiden" Seite 23

Sissel Gran, Psychologin, psychische Krankheiten, Drogenprobleme, Persönlichkeitsentwicklung
Astri Eidsbø Lindholm, Psychologin, Erwachsenentherapie, Familienberatung, Organisationspsychologie
Berthold Grünfeld,
Psychiater, Sozialmedizin, Gerichtsmedizin, Versicherungsmedizin, Sexologie
Hans Jakob Stang,
Psychiater, Sozialmedizin, Gerichtsmedizin, Drogenproblematik

Wenn Glaube zur Ausstoßung führt

Der (die) Unterfertigte gehörte jahrelang einer großen Sekte an, bei der starke Zugehörigkeit und enger Zusammenschluß herrschten, und wo Gottesfurcht und Rechtfertigheit hoch im Kurs standen. Es ging uns gut.

So geschah es: Machtmenschen tauchten auf. Damit eine neue Verkündigung und neue Richtlinien, gefolgt von einer gewaltsamen Erweckung. Eines der Gebote in dieser Erweckung war: höre auf, selbst zu denken, überlasse dies den Leitern. Dies gefiel nicht allen, auch mir nicht. Damit war die Spaltung besiegelt. Bruch mit der Familie, den Verwandten und Freunden - Trauer und Verzweiflung. Nach der Spaltung bestand ein wichtiger Teil der Verkündigung darin, uns, die wir gehen mußten, zu verurteilen, sich von uns zu distanzieren, und zu isolieren.

Daß dies den Leitern so recht ist, verstehe ich gut. Aber was veranlaßt gute, ältere, gottesfürchtige Menschen dazu, dabei mitzutun ? Was veranlaßt meine gutem alten Eltern, zu lügen ? Es gibt unter anderem unwahre Entschuldigungen dafür, daß sie mich nicht besuchen. Meine Geschwister glauben, Gott einen Dienst zu erweisen, indem sie mich nahezu als "NichtMenschen" betrachten.

All dies und noch viel mehr, aus dem einzigen Grund, weil ich die persönliche Verantwortung für das eigene Leben übernommen habe. Ich habe meinen Eltern und meinen Geschwistern nichts als Gutes getan, ich begehe keine Sünde, derer ich mich anklagen könnte. Die Ursache ist ausschließlich die, daß ich mich nicht in ein kollektives Denk- und Handlungsmuster hineinpressen ließ, das mir auf keine Weise mit wahrem Christentum in Einklang zu sein scheint. Dieses Neue muß ja eine Art von Religion für sie geworden sein ? Das ist weit von Gottes Wort entfernt.

Indessen beschäftigt mich nun im Nachhinein, zu verstehen, was mit dem Geist eines Menschen geschieht, zu verstehen, weicher schreckliche psychologische Prozeß abläuft. All dies im Laufe einiger Wochen. Es betrifft erwachsene, begabte Menschen. Was muß geschehen, damit diese Menschen wieder zur Vernunft kommen ? Wird dies jemals der Fall sein ? Können Psychologen darauf eine Antwort geben ?

Selbständiges Individuum


Du hast Dich entschlossen, Dich nicht unterzuordnen. Du bestehst auf Deinem Recht, selbst zu denken, aber das kostet offenbar seinen Preis. Du versuchst zu verstehen, was Deine alten Eltern und Deine Geschwister veranlaßt, sich dem Willen irgendwelcher religiöser Leiter auf Kosten u.a. des Verhältnisses zu Dir zu unterwerfen.

Leute, die längere Zeit loyal an einer engen Gemeinschaft teilgenommen haben, können, wenn sie neuen Anforderungen von neuen Leitern ausgesetzt sind, große Unsicherheit erleben. Für manche ist es da befreiend, daß andere - die Gemeinschaft und ihre Leiter - weiterhin die Wahl ihrer Lebensform gutheißen und ihnen den Weg zeigen, welchen sie gehen sollen.

Ein Mensch, der von einer Gruppe von Menschen zu einer Autorität in allen wichtigen Fragen erhoben wird, erhält natürlich große Macht. Das extremste Beispiel, das wir in letzter Zeit erlebten, war Pastor Jim Jones, welcher die von ihm gegründete Gemeinde, The Peoples Tempel Full Gospel Church, nach Guyana in Südamerika führte, wo er Jonestown gründete. Die Idee bestand darin, eine Idealgemeinschaft zu bilden, aber in Wirklichkeit glich das Leben dort eher einem Gefängnis, wo Jones unbeschränkte Macht ausübte. Als ein Kongreßmitglied aus den USA mit einer kleinen Delegation kam, um die Verhältnisse zu untersuchen, wurden sie von Sektenmitgliedern ermordet. Die Folge war, daß Pastor Jones den Befehl gab, daß alle Sektenmitglieder mittels Blausäure Selbstmord begehen sollten. Mehr als 900.folgten seinem Befehl. Eltern gaben ihren eigenen Kindern das Gift.

Was veranlaßt vermutlich aufrechte, gesunde Menschen, solche wahnwitzigen Handlungen zu begehen ? Manche versuchen, diese zu psychisch unstabilen Menschen zu erklären, zu religiösen Fanatikern, welche sich mit der Sache überidentifizieren. Aber bevor wir dies aus den inneren Eigenschaften der Sektenmitglieder heraus erklären, sind wir bemüht, die extreme Macht zu sehen, über die Pastor Jones verfügte; seine unglaubliche Fähigkeit, andere zu beeinflussen. Die wichtigste Erklärung könnte die sein, daß Jones die Kontrolle über das ganze Register der Belohnungs- und Strafmethoden der Gemeinde hatte; deshalb erwiesen sie ihm absoluten Gehorsam.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren führte der Psychologe Stanley Milgram an der Yale-Universität eine Reihe von Experimenten aus, anhand derer er das Phänomen Gehorsam untersuchte. Freiwillige Versuchspersonen stellten sich gegen Bezahlung zur Verfügung. Es wurde ihnen erzählt, das Experiment drehe sich um Lernen und Gedächtnis. Sie wurden auch instruiert, einer Person, deren Lernfähigkeit zu testen sei, elektrische Schläge zu erteilen; die Stärke variierte von 15 bis zu 450 Volt (sehr gefährlich). Bei jeder falsch beantworteten Frage sollte diese Person einen Schlag bekommen. Wenn sie zögerten, was die meisten auch taten, wurden sie vom Forschungsleiter fest und bestimmt aufgefordert, weiterhin mit wachsender Stärke Schläge zu erteilen. (Wir müssen hier klarstellen, daß die Person, welche angeblich die elektrischen Schläge bekam, ein Schauspieler war, der in Wirklichkeit keinen einzigen Schlag erhielt). Erschreckenderweise zeigte sich, daß 65 % der Versuchspersonen dem Forschungsleiter gehorchten und Schläge erteilten, welche sehr schädliche Wirkungen haben hätten können.

Wie kann man das erklären ? Milgram wies Persönlichkeitserklärungen zurück, die davon ausgingen, daß die Versuchspersonen, welche sich gemeldet hatten, besonders böse und sadistisch gewesen seien, und konzentrierte sich statt dessen auf die Erklärung der Situation selbst. Das meiste Gewicht legte er auf die einzigartige Macht, welche der Forschungsleiter in dieser Experiment-Situation hatte. Ihm stand es zu, Belohnungen zu vergeben, er allein konnte Anerkennung oder Kritik zuteilen, und die Teilnehmer ihrerseits wünschten offenbar, die Erwartungen dieser Autorität zu erfüllen. Er benützte verbalen Zwang: du mußt weitermachen, du hast keine andere Wahl, du ruinierst den Versuch, wenn du nicht weitermachst, usw. Sie verließen sich darauf, daß dieser tüchtige und respektierte Forscher es am besten wußte. Ferner meinten viele Versuchspersonen, sie hätten eine Abmachung getroffen, welche dem Forscher das Recht gab, ihre Handlungen zu steuern. Er bestimmte, sie folgten nur den Befehlen und hatten daher wenig Verantwortung dafür, was geschah. In dieser Situation ist es viel leichter, gehorsam zu sein als ungehorsam.

Wenn du den Forschungsleiter durch die neuen Sektenleiter ersetzt, dann kannst du Vergleiche ziehen.

Eine andere Weise, deine Familie zu verstehen, ist die Zuhilfenahme der Theorie von der "Sozialen Balance". Sehr vereinfacht dreht es sich dabei darum, daß zwischen dem, was wir akzeptieren, und dem, was wir verwerfen, eine Art Übereinstimmung herrschen muß. Laß uns annehmen, daß deine Eltern den neuen Sektenleiter akzeptieren. Der Sektenleiter jedoch akzeptiert dich nicht, weil du ausgebrochen bist. Das Problem für deine Eltern besteht nun darin, wie sie dich weiterhin akzeptieren sollen, wenn jener, den sie am höchsten schätzen, dich verwirft. Dies kann für sie eine verwirrende und unbehagliche Situation bedeuten, und um das Gleichgewicht wieder herzustellen, vereinfachen sie die Situation, indem sie dasselbe tun, was er tut: sie distanzieren sich von dir.

Wir hoffen, daß in diesen Theorien etwas enthalten ist, aus dem du Nutzen ziehen kannst, um in dem, was da geschieht, einen Sinn zu sehen. Dennoch halten wir fest, daß das Benehmen deiner Verwandten unakzeptabel ist. Du fragt, was geschehen muß, damit diese Leute wieder zur Vernunft kommen. Darauf können wir keine Antwort geben. Du kannst hoffen, aber dich nicht darauf verlassen, daß immer mehr Leute deine Ansicht über den neuen Sektenleiter teilen werden. Wir empfehlen, daß du dir ein Dasein unabhängig von der Familie schaffst. Es ist hart, im Erwachsenenalter von neuem zu beginnen, aber trotz allem ist es besser, selbst zu denken, als ein gehorsames Werkzeug für Machtmenschen zu sein. A.E.L. und S.G.

Aftenposten, Samstag 24. September 1994 -"På innsiden"- Seite 40

Noch etwas über Glauben und Ausstoßung

Liebes "selbständiges Individuum", 30.7.94.

Herzlichen Glückwunsch dafür, daß Du beschlossen hast, selbst zu denken.

Deine "Sekte" ist ja nach der Beschreibung leicht zu erkennen. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß es sich um die Smiths Freunde handelt.

Ich bin mit der Antwort der Psychologen einverstanden, daß deine Eltern und Verwandten insofern unschuldig sind, weil sie aus gutem Glauben handeln. Aber es ist das System "Smiths Freunde" selbst, das ihnen diese Handlungsweise aufzwingt. Meine Tochter schloß sich 1983 den S.F. an. Seitdem wurde ich zu einem "Nicht-Mensch". Deswegen habe ich für Deine Situation Verständnis.

Ich glaube jedoch, daß Du die Vergangenheit mit allzu positiver Brille siehst. Ich verweise auf die "Erinnerungen", die Johan Velten verfaßt hat. Er stieg 1972 aus und sagt etwa dasselbe über die damaligen Leiter wie Du jetzt. Und "denke nicht selbst, gehorche nur" ist nicht ganz neu. Aber es ist richtig, daß die Situation in den letzten Jahren schlimmer geworden ist - ich habe ein ganzes Archiv über das, was sich seit 1992 ereignete. Es ist wohl ein Naturgesetz, daß eine Gemeinde, die so großen Wert auf Gehorsam legt, Machtmenschen als Leiter anzieht. Ich empfehle ferner, Combatting Cult Mind Control Control zu lesen, verfaßt vom Amerikaner Steven Hassan (Park Street Press, Rochester, Vermont, 1988).

Die Psychologen drückten sich sehr vorsichtig aus. Ich bin aber froh darüber, daß sie Deine Sekte mit der Jim-Jones-Sekte vergleichen. Morddrohungen, Kindesentführung, Aufrufe, "jede einzelne Kirche niederzureißen" usw. sprechen genug von extremistischen Tendenzen, welche eines Tages zu Ereignissen führen könnten wie 1978 bei Jonestown oder 1993 bei Waco.

Ich bin mit mehreren Aussteigern und betroffenen Angehörigen in Norwegen in Kontakt. Wenn Du mit mir und mit ihnen in Verbindung treten willst, so kannst Du mir gerne schreiben.

Herzliche Grüße

Friedrich Griess
Doppelngasse 117
A-3412 Kierling
Österreich

Wir können weder bestätigen noch dementieren, ob der Absender, der über dieses Thema am 30.7. schrieb, Mitglied der Smith Freunde war. Ungeachtet dessen entschließen wir uns, die Antwort von Friedrich Griess zu drucken, mit Rücksicht auf alle, die als Mitglieder und eventuelle Aussteiger von fundamentalistischen religiösen Gemeinschaften eine regelrechte Notsituation erleben.

Viele haben totale Ausstoßung erlebt, wenn sie es vorzogen, die Gruppe zu verlassen. Als ein Unsichtbarer, eine Art lebender Toter behandelt zu werden, kann so angsterzeugend sein, daß es in ernster Weise die physische und psychische Gesundheit beeinträchtigt. Angehörige, welche nahestehende Familienmitglieder durch deren Eintritt in solche religiöse Gemeinschaften verlieren, drücken ihre Machtlosigkeit und Besorgnis aus. In solchen Situationen kann die Unterstützung anderer, welche dasselbe erlebt haben, entscheidend dafür sein, daß man wieder zu sich kommt und sein Leben neu orientiert.

S.G. und A.E.L